Menschenrechte, Demokratie, Ausgleich der Interessen, Zusammenarbeit, Vielfalt der Kulturen: Die Ideen und Werte des Westens sind nicht mehr selbstverständlich. Alte und neue Feinde formieren sich. Zum Beispiel: die politische Religion.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - „Wir waren eine Sekte“: So beschreibt Peter-Jürgen Boock in einem „Spiegel“-Interview die Stimmung in der Terrorbande „Rote Armee Fraktion“ im Herbst 1977. Raub, Mord, ewiges Verstecken, Flucht, Attentate und die Entführung des Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer, schließlich dessen Exekution – wie erklärt sich der ehemalige Terrorist, bei all den Verbrechen mitgemacht und niemals Zweifel oder Skrupel bekommen zu haben? „Wir waren eine Sekte mit einer Gruppeninquisition, die intern einen bösartigen Psychoterror entwickelte. Und es kam immer raus: Natürlich will man weitermachen.“

 

Das Gespräch mit Boock, der sich mittlerweile in einem gewissen Maß von seinen Taten distanziert hat, zeigt sehr eindrucksvoll, was vermutlich jeder Terrorist auf der Welt braucht, der bereit ist, über Leichen zu gehen: einen festen, unerschütterlichen Glauben. Einen festen Glauben an gewisse Werte und Ziele, deren Bedeutung so groß ist, dass sie den Wert des einzelnen Lebens notwendig übersteigen und jedes Mittel rechtfertigen. Und auch der nach außen scheinbar so unreligiöse Terrorist kennt Kulthandlungen: Sein Gebet ist die Vertiefung in Theorieschriften. Sein Gottesdienst die Gruppenaussprache. Wer in solchen Milieus steckt, egal unter welcher Abkürzung, für den heißt das Böse: Verunsicherung. Weil aus ihr folgt: Kritik.

Politische Religion: dieser Begriff kann doppelt gelesen werden, und so doppelt ist er hier auch gemeint. Den Werten des Westens, zu denen konstitutiv auch die Freiheit gehört, Verunsicherung zu zeigen und Kritik zu äußern, steht diametral feindlich gegenüber jedes politische Konzept, das sich in den Rang einer Ideologie erhebt. Denn jede Ideologie ist letztlich Religion. Das gilt übrigens auch für die Kritik selbst überall dort, wo sie zum reinen Weltanschauungskonstrukt wird, etwa bei den gewalttätigen Radikalen im Lager der so genannten Globalisierungskritik.

Gewalt und Leid im Namen verschiedenster Götter

Auf der anderen Seite des Begriffs „politische Religion“ finden wir dann tatsächlich die Gewaltfrommen, die Gotteskrieger, die Vorkämpfer für das Paradies. Seit dem 11. September 2001 fühlen sich die Menschen im Westen stark von islamistischen Terroristen bedroht, die explizit den Kampf gegen „den Westen“ und seine Werte sowie die Errichtung eines „islamischen Gottesstaats“ zum Programm erklärt hatten. Aber man lasse sich nicht blenden: Das Potenzial zur Gewalt gegen alles scheinbar Ungläubige findet sich nicht nur in einigen Suren des Korans. Es findet sich in allen Religionen dieser Welt.

Jeder Glaube beansprucht für sich, letztlich höher zu sein als die menschliche Vernunft. Jeder Glaube behauptet, dass es im Zweifel wichtiger sei, den Geboten der Gottheit zu folgen als den Wünschen des Nachbarn. Jeder Glaube verheißt ein Glück oder eine Form von Erlösung, die sich eben nicht im Realen der Gegenwart ergeben, sondern in deren wie auch immer gearteten Überwindung. Quer durch die Menschheitsgeschichte und rund um den Erdball verzeichnen wir darum ein ungeheures Maß an menschlicher Gewalt und menschlichem Leid, das religiös begründet und motiviert ist und im Namen irgendwelcher Götter erfüllt wird: Gewalt und Leid, die den eigentlichen Träumen und Idealen der Religion Hohn sprechen.

Kritiker mögen einwenden, dass viele dieser politischen Religionskriege eigentlich ganz andere Ursachen hätten, häufig sozialer oder kultureller Natur seien, wie etwa beim Konflikt der Protestanten und Katholiken in Nordirland. Aber das ändert nichts daran, dass die Beteiligten dieser Kriege ihre Schlachten als Religionsschlachten führen, mit den Waffen und Schlachtrufen ihrer Schriften. Die Terroristen von Barcelona haben sich als Kämpfer für den Islam definiert, ihre Opfer – sofern sie überlebten – müssen sich als Opfer des Islam begreifen.

Auch Religionen müssen sich an Werte halten

Deswegen lautet die Forderung keineswegs, die Religionen zu verbieten – das würde die Werte des Westens ja geradezu auf den Kopf stellen. Aber sie müssen, um einen Platz im Westen beanspruchen zu können, anerkennen, dass sie keinerlei Berechtigung haben, sich über andere zu erheben. Und von den Schriften-, Bildern- und Ideenverwaltern aller Religionen und Weltanschauungen, von Geistlichen und Theologen, von Päpsten und Patriarchen bis hinab zum Pfarrer, zum Imam oder zum Gemeindevorsteher ist ohne Wenn und Aber zu fordern, dass sie gegenüber den Gläubigen das Gewaltpotenzial ihrer heiligen Schriften brechen, also zur Liebe, Versöhnung und Toleranz mahnen, zur Nachbarschaftlichkeit und zum Miteinander.

Die Religionen dieser Welt haben nur dann einen Platz im Westen, wenn ihr unwiderruflicher Konsens dasjenige ist, was der Tübinger Theologe Hans Küng in seinem Weltethos-Projekt erarbeitet hat. Es ist eine Goldene Regel des Zusammenlebens, die sich als Kern in allen großen Religionen und Philosophien findet: Ich behandele andere so, wie ich selbst behandelt werden möchte. Aber überall da, wo politisch-religiöse Führer anders agieren, ob in evangelikalen Kreisen amerikanischer Rassisten, in antimuslimischen Buddhistenorden in Myanmar, in jüdischen Erweckungssiedlungen im Westjordanland oder in Hassnetzwerken des IS, überall da muss beim Namen genannt und bekämpft werden, was ihr Ziel ist: Gewalt und Terror.

Es gibt keinen Unterschied zwischen gutem und schlechtem Terror

Die Werte des Westens geben dem Einzelnen die Freiheit, sein Glück, wenn er will, in der Religion zu suchen. Aber sie fordern ebenso seinen Respekt, wenn der Nächste – auch wenn es der eigene Nachbar, die eigene Frau, das eigene Kind sein sollte – sein Glück anderweitig sucht. Und sie schaffen jene Regeln, bindend für alle, für Religiöse wie für Nicht-Religiöse, mit denen in Gesellschaft und Politik nach einem möglichst guten Mit- und Füreinander zu streben ist. Keine göttliche, sondern eine möglichst humane Welt – das ist der Horizont des Westens. Und das ist weiß Gott schon utopisch genug.

Die Frage des „Spiegels“, ob er eine Linie sehe zwischen IS und NSU zum eigenen RAF-Terrorismus, wehrte Peter-Jürgen Boock entschieden ab: Keineswegs, denn niemals habe die RAF „wahllos“ getötet. Aha. Sondern immer nur die Richtigen? So blendet die politische Religion ihre Krieger noch über Jahrzehnte hinweg.