Im Stuttgarter Beethovensaal hat das Freiburger Barockorchester unter René Jacobs eine sehr ungewöhnliche Version von Mozarts Requiem mit Haydns „Harmoniemesse“ zusammengebracht.

Stuttgart - Gestorben wird woanders. Als am Mittwochabend René Jacobs Mozarts Requiem dirigiert, ist der Beethovensaal voller Licht und Bewegung, und der Mythos von dem Genie, das über der Verfertigung seiner eigenen Totenmesse tragisch aus dem Leben schied, ist ganz weit weg. Aller außermusikalische Bedeutungsballast ist, schon als das Vorspiel zum ersten Satz beginnt, wie weggeblasen, und dafür, dass sich ein lichtes Diesseits einstellt, sorgt zuallererst die gewählte Fassung des Stücks: Das Freiburger Barockorchester spielt nicht einfach nur jene gängige Vervollständigung von Mozarts Stück, die dessen Schüler Franz Xaver Süßmayr anfertigte, sondern präsentiert diese obendrein in einer Bearbeitung des jungen französischen Komponisten Pierre-Henri Dutron, die dieser als „Süßmayr Remade“ bezeichnet. Diese Fassung bietet (vor allem durch Veränderungen von Instrumentierungsdetails) klangfarblich Raffiniertes ebenso wie einige harmonische Überraschungen, darunter etwa die herausoperierte Quinte am Ende des „Lux aeterna“-Satzes, die bewirkt, dass das Stück in einem merkwürdig fahlen Einklang endet.

 

Ein säkulares Sakralwerk

Das vernimmt man mit Interesse und gelegentlicher Irritation. Aufregend ist aber vor allem, was René Jacobs aus Dutrons renoviertem Mozart-Süßmayr-Material macht. Wie sehr das Requiem vom Singen her komponiert ist, hört man hier so deutlich wie nur selten – beginnend bei den langen, atmenden Phrasen des Beginns, sich fortsetzend im ungemein luftig genommenen Zierwerk der Koloraturen. Dass der ehemalige Countertenor am Pult außerdem die Tempi der fast pausenlos gegebenen Sätze auf rasante Weise in Extreme treibt, macht die Leistung des wundervoll mühelos, homogen und klangschön singenden RIAS-Kammerchors noch bewundernswerter (und lässt das Sakralwerk noch säkularer wirken). Kehrseite des Schnelllaufs durch das Kyrie der Totenmesse ist allerdings, dass sein Furor denjenigen des anschließenden „Dies irae“ aushebelt – und dass mancher Satz, manche Phrase getreu dem heimlichen Motto „Verweile nicht, sonst wird’s zu schön“ den Gewinn an Virtuosität mit einem Verlust an Vertiefung bezahlt. Auch zerfusselt im Übereifer des Gefechts mancher Anfang. Aber heraus kommt: Musik! Sie regiert an diesem Abend. Allein der Beginn des „Lacrimosa“ mit seinem wirkungsvoll gesetzten großen Crescendo ist ganz aus dem Klang heraus gedacht. Die wunderbaren Solisten (Sophie Karthäuser, Marie-Claude Chappuis, Maximilian Schmitt, Johannes Weisser) tragen das mit, das wache Freiburger Barockorchester ebenfalls.

Jeder Satz ein Individuum

Dass der Abend mit Joseph Haydns „Harmoniemesse“ schließt, hat, historisch gesehen, nichts mit nachgeschobener Konzilianz nach einem an- und aufregenden Experiment, sondern mit der üppigen Bläserbesetzung zu tun. Wobei sich Jacobs bei dieser letzten Messe Haydns weit weniger aus dem Fenster lehnt als zuvor beim populären Requiem – dass bekanntes Repertoire diesen Dirigenten zu ungewöhnlicheren Interpretationen herausfordert als unbekannteres, hat er immer wieder (zuletzt bei seiner Einspielung von Bachs Johannespassion) bewiesen. Zu hören ist hier ein Werk voller subtiler Nuancen, fein durchgestaltet, im Vokal- wie im Instrumentalsatz ungemein klar artikuliert, jeder Satz ein künstlerisches Individuum. Kenner und Liebhaber im Saal sitzen da mit leuchtenden Augen.