Melancholie im Revuetheater: René Pollesch und Fabian Hinrichs zeigen ihren „Glauben an die Möglichkeit der völligen Erneuerung der Welt“ auf der riesigen Bühne des Berliner Friedrichstadt-Palasts.

Stuttgart - Fast waren sie schon wieder rum, die 75 Minuten dieses funkelndsten Klunkers in der Berliner Spielplankrone, da wurde nochmal geprotzt. Ein monströses Stahlgerüst fährt hinein in die unendlichen Weiten des Friedrichstadt-Palasts, leuchtröhrenumrankt, Treppen auf beiden Seiten. Eine Einladung, eine Verheißung. Fabian Hinrichs, Wanderprediger mit offenbar wehem, sachte gesetztem Fuß, geht eine dieser Treppen hinauf – und wieder runter. Zweimal, dreimal. Siebenundzwanzig Tänzerinnen und Tänzer des Palasts tun es ihm gleich, queren die Brücke. Wenig später treffen sie sich unter der Überführung, legen sich wie schlafend nieder, Hinrichs in ihrer Mitte. „All die Möglichkeiten, die gar keine sind!“, ruft er einmal – ist es vorher, ist es danach? – an diesem Abend. Nun also steht sie da und glotzt romantisch, die eiserne Show-Rampe. Ungenutzt und ausgeschlagen wie ein in der Postfiliale vergessenes Zalando-Paket.

 

Tief ins Herz des Pollesch-Theaters führt dieser Moment, der aus allem und nichts gezimmert scheint, tief ins Flirren und Schillern seiner Kritik an der kapitalistischen Wertschöpfungslogik. Pollesch geht es um das widerständige Ruhen inmitten der Warenströme. Man muss sich hängenlassen, weshalb Fabian Hinrichs – bekannt aus dem Nürnberger „Tatort“ – in „Glauben“ am Ende vom Schnürboden abhängt wie einst schon in Polleschs „Kill your Darlings!“ an der Volksbühne. Zu jenem legendär gewordenen Abend verhält sich das ungeahnte Palast-Gastspiel überhaupt wie ein Fortsetzungsstück. Wieder ist Einsamkeit das Thema, wieder gibt Hinrichs den monologisierenden Conférencier, wieder wird geturnt und gepurzelt und ein Morrissey-Song rezeptionsästhetisch ausgedeutet. Was bedeutet es, fragt Hinrichs ins hallende Rund der 2000 Palast-Plätze, wenn zigtausende Menschen Morrisseys Suizidfantasien mitsingen? Haben die etwa alle auch „kein Zuhause“? Wahrscheinlich doch. Aber im Schmerz haust es sich schöner. Und zusammen ist man weniger allein.

Wie ein Ufo-Absturz

Dass Pollesch und sein Co-Autor Hinrichs damit nun eine Hochburg der durchperfektionierten Unterhaltungsshows behelligen, kommt dennoch nicht wie ein Ufo-Absturz daher. Das liegt auch daran, dass Pollesch mit „Glauben“ einen seiner bisher melancholischsten, zugewandtesten Texte geschrieben hat, weit weniger diskursgeschüttelt und manchmal durchaus zuckriger als seine jüngeren Arbeiten, die er seit dem Ende der alten Volksbühne landauf, landab über die Bühnen schickt. Pollesch nimmt den Palast ernst, weiß um die Verwandtschaft seines E-Theaters mit dem großen U. Und der Palast darf herzeigen, was er kann und hat. In den Bühnenresten der aktuellen Revue „Vivid“ lässt die Lichttechnik also ihre Lasershow-Muskeln spielen – und die begnadeten Tänzerinnern und Tänzer sind Masse, aber nicht Ornament, eher Kollektiv als Netzwerk. Eine Boléro-Choreografie wird zum szenenbeklatschten Selbstzweck, eine Show-Reihe mit makellos synchronisierten Beinwürfen zum musikbefreiten Sportstück.

Dazwischen stößt Fabian Hinrichs im hautengen Goldeinteiler den Text vor sich her, schlendert durch die Zuschauerreihen, spricht im angelernten Verkündigungston eines Redners, der weiß, dass er eigentlich „Käse erzählt“. An den Showeinlagen beteiligt er sich in völligem Einverständnis mit dem eigenen Dilettantismus. Ganz so hoch wie am Palast gefordert wirft auch ein Supersportler wie Hinrichs die Beinchen nicht, seine Bewegungen schleppen denen der Kompanie stets um einen Sekundenbruchteil hinterher. Auch das ist purer Pollesch: Nur Unvermögen rettet noch vor der großen Uniformität. Aber Wahnsinn, wie gut die aussieht!

„Zusammen im Auto zu sitzen, das hatte Größe, aber es war eben doch nichts“, sagt Hinrichs einmal und hascht mit dem Text nach einem dieser raren, wettbewerbsfreien Augenblicke, die immer schon in der Vergangenheit passiert sein müssen. „Und an diesem Nichts liegt mir unheimlich viel.“ Die Show steht stille. Man kann das rührig finden, allzu milde vielleicht. Aber selten hat René Pollesch mehr über sein Theater verraten, selten lag es so schutzlos da. Ein Theater, das immer auch im Verdacht stand, aus dem Vielen nichts und dem Nichts viel zu machen. Wie seltsam, wie richtig, dass es jetzt ausgerechnet an diesem Ort ein vorübergehendes Zuhause hat.