Realschüler testen mit einem Rollstuhl, wie behindertengerecht die Gebäude in der Stadt sind.

Renningen - Schmale Gänge, schwere Türen, Treppenstufen: Dass diese Dinge, die für die meisten zum täglichen Leben dazugehören, für andere unüberwindbare Hindernisse darstellen können, haben Schüler der Realschule Renningen am eigenen Leib erfahren. Für den Landkreis Böblingen waren sie unterwegs, um Daten für die sogenannte „Wheelmap“ zu sammeln.

 

In dieser digitalen Straßenkarte werden Informationen darüber zusammengetragen, ob die Gebäude in einer Gemeinde behindertengerecht sind oder nicht. Wer auf den Rollstuhl angewiesen oder auf andere Weise gehbehindert ist, kann sich daran orientieren. Schulen im gesamten Landkreis beteiligen sich an dem Projekt, darunter das Weiler Johannes-Kepler-Gymnasium und die Ostertag-Realschule in Leonberg.

Die Renninger Realschüler, alle aus der achten Klassenstufe, sind in Gruppen auf Achse, jeweils in Begleitung eines Vertreters von der Renninger Agenda, der die Aufsicht übernimmt und Tipps gibt, worauf die jungen Leute achten müssen. Dazu haben sie eine Liste an die Hand bekommen, die ihnen sagt, worauf sie das Augenmerk legen müssen. Zum Beispiel: Ist eine Eingangstür schwer zu öffnen, sind alle wichtigen Räume ebenerdig oder über einen Lift erreichbar, gibt es eine Behindertentoilette?

Schulzentrum und Stadtkern im Blick

In ihrer eigenen Schule, das stellen Chantal, Alyah, Fabia, Elena und Helen gleich am Anfang ihrer Tour fest, gibt es eine solche nicht. „Die ist viel zu klein“, bemerkt Chantal mit Blick auf das Mädchenklo im Erdgeschoss. „Rein kommt man zwar, aber nicht bis zur Toilette“, notiert sich Elena. Ihre Erkenntnis kommt nicht von ungefähr. Denn das Landratsamt hat extra veranlasst, dass die Gruppen jeweils einen Rollstuhl zur Verfügung gestellt bekommen. Das Sanitätshaus Cali & Russo in Leonberg habe sie sogar extra angeliefert und später wieder abgeholt, freut sich Nico Grellmann, der das Projekt in Renningen als Lehrer betreut.

In der Gruppe, die das Schulzentrum und den Stadtkern näher unter die Lupe nimmt, hat die 13-jährige Helen in dem Gefährt Platz genommen. „Eigentlich ist es ganz bequem, eben ein rollender Stuhl“, meint sie, als sie die ersten Fahrversuche damit unternimmt. „Aber wenn man darauf angewiesen ist und jeden Tag darin sitzen muss“, überlegt sie weiter, dann sei das natürlich nicht mehr so toll. Und alles andere als einfach, wie sie bald feststellen muss. Die schwere Schwingtür am Gymnasium jedenfalls bereitet ihr große Probleme. Zerren, schieben, festhalten – nein, alleine geht es nicht. Die anderen Mädels müssen mit anpacken und die Tür festhalten. Zum Glück, bemerken sie später, kann man die Türen einrasten lassen, sodass sie nicht mehr zufallen. Zum Sekretariat führt außerdem ein Aufzug, und es gibt zwei Behindertentoiletten. Trotz der Schwierigkeiten am Eingang ist für die Mädchen deshalb klar: Dieses Gebäude bekommt eine grüne Wheelmap-Plakette. Das bedeutet: Es ist rollstuhlgerecht – und somit auch gut zugänglich für Eltern mit Kinderwagen oder Menschen mit Rollatoren.

Ältere Gebäude sind selten ganz barrierefrei

Richtig begeistert sind die fünf Mädchen von der neuen Mediathek, die erst vor Kurzem bezogen wurde: Die Türen öffnen automatisch, es gibt einen geräumigen Fahrstuhl, der in die oberen Räume und zur Behindertentoilette führt. „Sogar die Computer sind behinderten- und kindgerecht“, staunt Chantal. Denn Bildschirme und Tastaturen lassen sich mit einem einfachen Handgriff in der Höhe verstellen. „Das Ergebnis ist in etwa so, wie wir erwartet hatten“, resümiert Grellmann. „Ältere Gebäude sind selten ganz behindertengerecht, in den Neubauten ist das etwas ganz anderes.“

Dass die Schüler mit so großem Engagement bei der Sache sind und das Projekt ernst nehmen, freut ihn besonders. „Sie waren so begeistert, weil sie damit auch etwas bewegen können.“ Für die Jugendlichen war es zudem eine Chance, einen Einblick in eine Welt zu erhalten, die sie sonst vielleicht gar nicht oder nur ganz am Rande wahrnehmen. „Ich hätte zum Beispiel nie gedacht, wie schwer es sein kann, eine Tür zu öffnen“, sagt Helen, die nun um eine Erfahrung reicher ist. „Ich finde es auch sehr interessant zu sehen, wie andere reagieren, wenn sie sehen, dass man im Rollstuhl sitzt. Daran merkt man erst, wie man diese Menschen vielleicht selbst anschaut, wenn man ihnen begegnet“, überlegt sie.

Ampelsystem
: Online ist die Wheelmap unter www.wheelmap.org zu finden. Sie kann außerdem als App heruntergeladen werden. Auf der digitalen Straßenkarte sind in allen möglichen Städten und Gemeinden neuralgische Punkte abgebildet – von Geschäften über öffentliche Gebäude bis hin zu Parkhäusern. Diese werden von den Beteiligten sukzessive nach den Kriterien der Wheelmap bewertet. Es gilt das Ampelsystem: grün für rollstuhlgerecht, gelb für teilweise und rot für gar nicht rollstuhlgerecht.

Gemeinsam
: Der Landkreis Böblingen beteiligt sich an dem Projekt in Form einer Mitmachaktion, in die vor allem Schüler, aber auch ehrenamtliche Unterstützer vor Ort einbezogen sind. Die Pilotphase für das Projekt war im Herbst 2015 in Zusammenarbeit mit dem Kreisberufsschulzentrum in Leonberg.