Die Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren hat einen großen Run aus den Betrieben ausgelöst. IG-Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban weist die Kritik an dieser Maßnahme zurück.

Politik: Matthias Schiermeyer (ms)
Herr Urban, die Rente mit 63 wird viel stärker angenommen als zunächst gedacht – sehen Sie die große Akzeptanz mit Genugtuung?
Die Resonanz ist groß – aber nicht dramatisch größer als gedacht. Richtig ist: Es gibt Beschäftigte, die sich aus guten Gründen für die Rente mit 63 nach 45 Versicherungsjahren entscheiden. Deswegen freuen wir uns darüber, dass wir im Rahmen eines flexiblen Ausstiegskonzepts eine weitere Möglichkeit durchsetzen konnten, die offensichtlich gut in die heutige Arbeitswelt passt.
Die Regierung hatte zunächst niedrigere Zahlen genannt – hat sie sich geirrt oder bewusst tiefgestapelt?
Es kann sein, dass die Zahlen im ersten Jahr etwas höher sind als zuvor gedacht. Es ist allerdings immer schwer, soziale Verhaltensweisen mathematisch exakt vorherzusagen. Die Menschen können sich ja frei entscheiden und niemand weiß im Voraus genau, wie sie dieses Recht wahrnehmen.
Praktisch jeder, der abschlagsfrei gehen kann, geht auch: War diese Wirkung von den Gewerkschaften so intendiert?
Ich glaube nicht, dass jeder, der gehen kann, auch gehen wird. Das hängt von den Arbeitsbedingungen ab und davon, wie die Menschen den Belastungen gerecht werden können. Die gesetzliche Regelung lautet nicht: Nach 45 Jahren muss man mit 63 gehen. Es ist eine Möglichkeit. Viele wollen nicht gehen – einige aus Interesse an der Arbeit, andere weil der vorzeitige Ausstieg mit materiellen Einbußen verbunden ist, die sich nicht jeder leisten kann.
Ist der enorme Andrang das richtige Signal vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung?
Das ist doch die falsche Frage. Ich finde es viel spannender, darüber nachzudenken, warum die Menschen vorzeitig aussteigen wollen, obwohl zum Beispiel ein Durchschnittsverdiener, der mit 63 statt 65 geht, im Westen monatlich 58 Euro und im Osten etwa 53 Euro weniger Rente erhält – und zwar sein ganzes Rentnerleben lang. Das muss doch Gründe haben, und die liegen in den Arbeitsbedingungen. Wir sollten nicht so lange darüber rätseln, wie viele Menschen diese Rente in Anspruch nehmen – sondern danach fragen, was getan werden kann, um ihnen den Verbleib im Arbeitsleben zu ermöglichen.
Die Gewerkschaften hatten vor allem die Arbeitnehmer im Auge, die es gesundheitlich nur mühsam in die Rente schaffen. Tatsächlich wird sie von denen in Anspruch genommen, die noch gut bei Kräften sind. Somit geht die Rente mit 63 am Ziel vorbei?
Wir wissen doch noch gar nicht genau, wer die vorgezogene Rente in Anspruch nimmt. Die Rentenversicherung wird erstmals am Ende des Jahres die Zahlen auswerten können. Dann wissen wir mehr.
Man weiß, dass viele gut verdienende Facharbeiter mit hohem Rentenniveau die Chance zum Ausstieg nutzen. Zudem fehlen sie künftig den Unternehmen.
Viele der Kollegen mit über 45 Versicherungsjahren haben sehr früh angefangen. Teilweise sind sie in un- und angelernten Tätigkeiten und haben ein Leben lang in belastenden Tätigkeiten gearbeitet. Gerade auch für sie ist die neue Rente da. Es gibt auch in unseren Branchen viele, die auf oder unter dem Durchschnittseinkommen liegen. Schließlich: Wenn die Arbeitgeber die gut ausgebildeten Fachkräfte brauchen, sollten sie nicht klagen, sondern sich darum bemühen, sie zu halten: etwa durch entsprechende Arbeitsbedingungen. Da ist in vielen Betrieben ein Umdenken angesagt.