Roger Willemsen hat den Swing (und nicht nur den), und das besonders Gute ist, dass man auch ohne besondere Vorkenntnisse viel Freude hat an seinen nachgelassenen kleinen Erkenntniseinheiten zu alter, neuer und neuester Musik.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Über Musik zu schreiben ist auch immer eine Anmaßung: Genauso gut könnte man eine blühende Wiese in Worte zu fassen versuchen. Und was weiß man schon, selbst wenn man ein bisschen was weiß, von Musik, einem mehr als weiten Feld? Und was könnte man schon besser wissen als die Interpreten von Musik, die ja schließlich im Stoff tief drin stecken?

 

All dem zum Trotz ist das Bedürfnis, Musik beschrieben zu wissen, groß. Vor den SWR-Konzerten in der Liederhalle, um jetzt nur mal ein Beispiel zu nennen, sitzen fast immer schon alle Zuhörer in der Einführung, die ja auch kompetent und unterhaltend gemacht ist und für manchen Besucher sogar Programmhefttexte ersetzen mag, die nach Meinung des Pianisten Igor Levit eh abgeschafft werden könnten. Man solle, schrieb er kürzlich, den Menschen doch bitte einfach mitteilen, was zu hören sei, um sie dann mit musikwissenschaftlichen Einlassungen, die sich zwischen Bremen und Zwickau immer mehr oder minder gleich läsen, zu verschonen. Für Nachbetrachtungen hat Levit ebenfalls nicht viel übrig. Andererseits ist es manchmal womöglich schon hilfreich, zumindest eine vage Idee davon zu haben, was sich in der nächsten Viertelstunde in diesem oder jenem Gustav-Mahler-Satz ereignen wird, zumindest so ungefähr, und wahrscheinlich hat man mehr vom späten John Coltrane, wenn man ahnt, worauf er hinauswollte, und dass auch Stille ein Statement sein kann.

Generalpause.

Und nun folgende Sätze: „Manchmal legt man eine Platte fahrlässig auf, so nebenbei, meint, sie wird sich schon irgendwie in den Tag einfädeln, und dann steht man plötzlich bewegungslos, weil diese Musik so ist, als sei ein Mensch in den Raum getreten, ein Mensch mit Präsenz.“ Das steht in den nachgelassenen Schriften von Roger Willemsen, die sich mit Musik befassen. In einem Buch, das ein Buch hatte werden sollen. Jetzt ist es, nach Willemsens frühem Tod, nur eine Textsammlung. Aber was heißt nur? Die Geschichte vom kubanischen Pianisten Omar Sosa (Seite 309 ff.) könnte ein Anfang sein, steht aber irgendwo in der Mitte. Man kann, das ist das besonders Gute, in „Musik“ (Fischer Verlag; 24 Euro) überall beginnen und wird auf jeden Fall klüger und sensibler für Klänge und Menschen werden, deren Leben und Werk hier häufig in ein paar Sätzen eine Aura bekommt, in Nachrufen zumal. In dem auf Michel Petrucciani, den Zauberpianisten mit den Glasknochen, steht am Ende: „Auch das Klavier hatte einen Freund verloren!“, und es ist wirklich alles gesagt.

Ansteckend mit seiner Begeisterung

„Musik ist, wenn der Zoch kütt“: Das hatte der rheinische Jung’ Willemsen begriffen, schreibt er, als der Spielmannszug in seinem Dorf zum ersten Mal an ihm vorbeigelaufen war. Musik ist Bewegung – und verändert den Menschen mit jedem Takt. Willemsen lernte kein Instrument, vervollkommnete aber über die Zeit hinweg die Kunst, das Miteinander von Instrumenten und Stimmen zu beschreiben. Ohne jedes Fachchinesisch findet er einen neuen, eigenen Ton, zum Beispiel zu Joseph Haydn: „Die Melancholie ist hier oftmals Haltung, aber es ist eine versöhnte Melancholie.“ Ein Satz, von dem sich länger zehren lässt, und wann immer man etwas von Haydn hört demnächst, wird er sich einstellen als gedanklicher Begleiter.

Etliche Transkriptionen in diesem Band haben ihren Ursprung in einer Radiomoderation gehabt, wo sie so waren, wie sie in diesem Medium gehören, nämlich direkt animierend, und das war Roger Willemsen ja ohnehin in hohem Maße: ansteckend mit seiner Begeisterung. Das vermittelt sich auch noch mühelos auf dem Papier, wenn in jedem Text munter Grenzen neu abgesteckt werden, bis man gar nicht mehr weiß, ob es überhaupt welche gibt. In „Klassik und Jazz“, neben den Porträts von Jazzmusikern der längste Teil dieses Buches, konfrontiert Roger Willemsen ein, wie man so sagt, klassisches Stück mit einem mehr oder minder zeitgenössischen: Clara Schumann und Bill Evans kommen mit ihren Kompositionen zusammen, Muzio Clementi und Lennie Tristano, Ferruccio Busoni und Tommy Flanagan. Außerdem, beides größte Favoriten des Moderators: Domenico Scarlatti und Art Tatum. Scarlatti in zwei Sätzen geht so: „Kaum jemals hat jemand so radikal mit den Konventionen der Musik seiner Zeit gebrochen wie er. Ein Mutwille herrscht in dieser Musik, ein ,Swing‘ geht durch sie hindurch, ein tänzerischer Geist, etwas Kapriziöses, Launisches, das den Geist der Befreiung atmet.“ Da weiß man doch Bescheid.

Auch auf dem Planeten Pop daheim

Willemsens Musikgeschichten sind immer auch Gesellschaftskritik, egal ob er dem pervertierten Genre der Volksmusik die Hölle heiß macht („Die letzte Utopie nach der gescheiterten Befreiung des Proletariats liegt im Prosit der Gemütlichkeit“) – oder noch einmal scharfsinnig das Erscheinen von Sinéad O’ Connor auf dem Planeten Pop bedenkt: „,Nothing compares 2 U‘ hieß der Song. Prince hatte ihn für eine namenlose Irin geschrieben, deren fast glatzköpfige Physiognomie bildfüllend auch das Video beherrschte, und, ja, während ihrer Performance weinte sie. Das war krass, wie man damals noch nicht sagte, aber krass war es, und das vor allem, weil es etwas Nicht-Simulierbares war, etwas Nicht-Gefälschtes, Ungeschütztes, und fast hätte man mit Blick auf die umliegende Popmusik gesagt: Moment, so war das nicht gemeint.“ Und dann folgt ein sehr lehrreicher Exkurs über fundamentalistische Tendenzen in diesem Genre, das immer so tue, als hätte es die Freiheit gepachtet.

„Musik“ ist eine Schule des Hörens, in der jeder mitkommt, weil sich die Unterrichtsleitung voraussetzungslos an alle wendet, denen Musik etwas bedeutet. Man muss nichts wissen, um Willemsens Worte und Überlegungen zu verstehen – mitdenken und mitfühlen reicht völlig. Zum Beispiel, wenn es um Händels Oratorium „Joshua“ geht, dem Connie Evingsons atemloses Stück „Anthropology“ folgt. Und Willemsen erklärt die Geburt des Bebop aus dem Geist des Barock, wenn Achsa bei Händel ihre Jubelarie anstimmt: „In ihrer Freude löst sich die glückliche Stimme aus der Versklavung durch das Wort und wird in einem Spiel der lautmalerischen Silben frei. Dort, so könnte man behaupten, beginnt der Scat-Gesang.“