Am Aufzugtestturm bei Rottweil werden zurzeit die letzten Bauarbeiten abgeschlossen. Wenige Kilometer entfernt restauriert man einen der ältesten Türme der Stadt. Ein Besuch zeigt zwei Extreme.

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Rottweil - Michael Klein wuchtet die Stahltür auf, die zu einem der Transportschächte im Aufzugtestturm von Thyssen bei Rottweil führt. Er geht zehn Schritte durch den glatt betonierten Gang. Das Fenster neben dem Schacht ist aufgekippt. „Nicht gut“, murmelt Klein und schließt zu. Hier oben, gut 230 Meter über dem Boden, kann der Wind mit Geschwindigkeiten von mehr als 100 Kilometernpro Stunde gegen den Turm pressen. Das bringt den Koloss ins Wanken. Fenster bleiben besser geschlossen.

Details wie dieses machen Michael Klein nervös. Der 50-Jährige trägt ein kurzärmliges Hemd, einen weißen Baustellenhelm sowie eine Sportuhr mit integriertem Schrittzähler. Es ist kurz nach drei, und Klein hat schon 4406 Schritte gemacht. Am Ende des Tages werden es rund 10 000 sein. Als Head of Testtower Rottweil ist Klein dafür verantwortlich, dass bis zur Eröffnung und darüber hinaus alles reibungslos verläuft. „Ab Oktober erwarten wir jährlich 150 000 Besucher“, sagt er. „Parallel wird hier an Innovationen geforscht.“

Sehen Sie hier wie der Turm in die Höhe schoss:

Eine 3,40 Meter dicke Fassade

Wenige Tage zuvor, unten im Stadtzentrum: Klaus Locher und Stefan Widmer stehen vor einer sandbraunen Steinmauer wie vor dem Regal einer Bibliothek. Etwa genauso lange, wie am Rand von Rottweil der Aufzugtestturm gebaut wird, restaurieren die beiden einen der ältesten Türme Rottweils. Wo Michael Klein die Zukunft organisiert, verwalten Locher und Widmer die Vergangenheit. Was treibt die Herren der Türme bei ihrer Arbeit an? Und wie schauen die Restauratoren auf den neuen Turm?

Das Objekt, das Locher und Widmer seit Frühjahr vergangenen Jahres restaurieren, wird das Schwarze Tor genannt. Dem 54 Meter hohen Gebäude sieht man sein Alter an: Die bis zu 3,40 Meter dicke Fassade ist von Rissen und Löchern vernarbt. Der Turm wurde erst als Zugang zur Stadt, später als Gefängnis und schließlich als Jugendraum genutzt. 1240 gebaut, wurde er rund 300 Jahre später aufgestockt. Während die Steine im unteren Geschoss Buckel haben, sind die oberen Geschosse daher aufwendiger glattgeschliffen.

Wie ein Arzt und eine schmutzige Wunde

Stefan Widmer nimmt sich eine Sprühflasche und füllt sie mit Wasser. Er greift zu einem Schwämmchen und läuft um die Außenmauer des Turms. Baustaub hat sich in seine Brauen und auf die Nase gesetzt, darauf sitzt die modische Brille, durch die er sein Werk betrachtet. Gerade erst hat er eine Fuge mit selbst gemischtem Mörtel neu verputzt. Nun befeuchtet er die Mauer, tupft und streicht mit dem Schwamm über die Stelle. Die kleinen Kiesel in dem Gemisch legt er so wieder frei wie ein Arzt eine schmutzige Wunde.

Widmer ist als Restaurator auf Wandmalerei spezialisiert. Der 52-Jährige lebt in Rottweil, schaffte aber schon auf der ganzen Welt: an der Hagia Sophia in Istanbul, an der Freitagsmoschee in Sanaa und am Felsendom in Jerusalem. Am Schwarzen Tor ist er vor allem für den Erhalt von Putz und Fugen zuständig. Als er mit Tupfen und Streichen fertig ist, nickt er zufrieden. Die neue Fuge sieht aus, als hätten ihr schon Hunderte Jahre Regen zugesetzt.

Was Steine brechen lässt

Klaus Locher steht an der Mauer und legt die linke Hand auf einem der Steinquader ab. Mit der Rechten klopft und kratzt er mit einem winzigen Hammer auf dessen Oberfläche. An manchen Stellen klingen die massigen Steine ein bisschen hohl. Das sind die Blöcke, die der 56-jährige Steinmetz reparieren muss. Das größte Problem der alten Mauer ist Wasser. Denn zum einen löst Regen die Bindemittel im Stein, die Sandkörner darin werden so ganz langsam abgetragen. Zum anderen ziehen die Klötze Wasser aus dem Boden. Auf der Oberfläche der Steine verdampft die Flüssigkeit und hinterlässt Salze. Die aber dehnen sich aus und sprengen so die Oberfläche der Quader von ihrem Kern. Locher kann mit seinem Hammer hören, wo sich die Schale eines Steins bald löst. Schließlich ist es auch ein Problem, wenn sich das Grundwasser unter dem Turm verlagert. Bewegt sich das Fundament, zerrt es in der Mauer einseitig an den Quadern. Die fehlende Stütze lässt manche Steine brechen.

Hoch oben im Aufzugtestturm ist Michael Klein spät dran. In wenigen Minuten hat er einen Termin, aber vorher muss er noch einige Räume im Turm überprüfen. Weil er jeden Tag zwölf Stunden am Turm ist, wohnt er unter der Woche in Rottweil. Nur am Wochenende fährt er zu seiner Frau in den Kreis Esslingen. Mit schnellen Schritten eilt Klein durch das Gebäude. Im Schnitt hat er in seinem Arbeitsleben alle drei Jahre den Beruf, das Unternehmen oder wenigstens das Land gewechselt. Er war Stahlschlosser, Handelsfachwirt und baute für einen Automobilzulieferer ein Werk in Polen auf. Sobald seine neue Aufgabe ihn nicht mehr forderte, zog es ihn weiter. „Man muss in die Zukunft gucken“, sagt Klein und öffnet die Stahltür in den nächsten Gang. Dahinter liegt hinter einer Glasscheibe auf der rechten Seite der sogenannte Schwingungstilger.

Die Technik der Zukunft

Das 240 Tonnen schwere Pendel im Herz des Turms ist in seiner Funktion einmalig. Denn es gleicht nicht nur Windbewegungen aus wie seine Verwandten in Hochhäusern in New York oder Shanghai. Es lässt sich bei Windstille auch selbst zum Schwingen anregen. So können Ingenieure bei ihren Tests von Aufzugsystemen das Stoßen und Zerren von Wetter simulieren.

Klein stellt fest, dass der Boden hier staubig ist. Ein Handschuh liegt herum, Holzdielen und Dämmmatten lehnen an einer Wand. An der Decke bemerkt er ein Stromkabel, das nicht befestigt ist. Obwohl Donnerstag die internationale Presse geladen ist, sieht vieles nach Baustelle aus. Der Testbetrieb für den Multi soll so schnell wie möglich starten.

Multi nennt Thyssen ein neu entwickeltes Aufzugsystem, mit dem man die Konstruktion von Gebäuden revolutionieren will. Ein elektromagnetischer Antrieb soll mehrere Kabinen in einem Schacht ohne Seil bewegen können. Klappt alles wie geplant, bräuchte man nur noch halb so viel Platz wie bislang. Dafür fahren die Kabinen des Multis bei Bedarf auch horizontal.

Was der Restaurator opfert

„Es gab Restaurierungsphasen, die ganz, ganz schlimm waren“, sagt Widmer und blickt auf das Schwarze Tor. In seiner Stimme liegt eine Mischung aus Trauer und Empörung. Die Falten in seinem Gesicht wirken weich, wie frisch verputzt. „Der Turm wurde menschlich bewittert.“ Mit der rechten Hand presst Widmer seine Mappe mit historischen Analysen an die Brust, mit der Linken zeigt er auf eine raue Stelle an der Außenmauer. Bei Sanierungen in den 70er Jahren wurden Teile des Tors offenbar mit einem Sandstrahler gereinigt. „Restauratorisch ist das eine Katastrophe, der Stein wird verletzt“, sagt Widmer und zeigt mit der flachen Hand erneut auf die raue Stelle, als würde ein Zeigefinger dem Fehler nicht gerecht werden. Er selbst arbeitet mit einem Mikrodampfstrahler, Heißdampf und Wurzelbürsten.

Widmer spricht über seine Arbeit am Turm wie ein Arzt über seinen Patienten. Seine Behandlungen sind konservativ. „Ich durfte“, sagt er, wenn er beschreibt, was er bislang gemacht hat. Um die Farbe des alten Mörtels zu treffen, hat er ein walnussgroßes Stück geopfert und das Verhältnis der Sandkörner bestimmt. „Man muss sich dem Gebäude unterwerfen, wo es nur geht. Lieber zu wenig verändern als zu viel.“ Widmer fährt auch am Wochenende an das Schwarze Tor, um den Mörtel zu befeuchten. In 20 Jahren wird der Turm trotzdem zumindest unten, wo das Salzproblem extrem ist, erneut restauriert werden müssen.

2640 Tonnen Stahl

An einer anderen Seite des Schwarzes Tors schiebt Klaus Locher seine Brille die Nase hoch. Die vergangenen 20 Jahre hat er die Kirche Heilig-Kreuz-Münster, nur 200 Meter entfernt von hier, restauriert. Nun liegt vor ihm eine Karte, auf der jeder Steinschaden des Schwarzen Tors eingezeichnet ist. Unten müssen einige stark zerstörte Steine zum Teil oder ganz ausgetauscht werden. Weiter oben reicht es häufig, die Steine zu verkleben. Drohen größere Stücke herunterkrachen, bohrt der Steinmetz Löcher und verklebt darin Dübelstangen: dick wie ein Finger, lang wie ein Unterarm. Mit ihnen werden die äußeren Steine wieder in der Mauer verankert.

Im Tor hat man damals zwei Arten Kalkstein aus der Region verbaut. Dolomit ist fest und bringt Standfestigkeit. Der weichere Tuff erhöht die Flexibilität. Widmer vermutet, dass die Verwendung beider Steinarten Absicht sei. Für ihn und Locher ist die alte Baukunst noch immer Hightech. „Mit Stahlbeton kann man auch tolle Sache mache“, sagt Locher und nickt Richtung Testturm. Dort hält ein Skelett aus 2640 Tonnen Stahl rund 15 000 Kubikmeter Beton.

Was den Testturm kaputt machen wird

Zwei Kilometer Luftlinie entfernt hetzt Michael Klein hoch oben durch das Treppenhaus. Die vorerst letzte Station seiner Inspektion ist die Aussichtsplattform. Es ist die höchste in ganz Deutschland, 80 Meter höher als der Stuttgarter Fernsehturm. Ab Oktober können Besucher den Schwarzwald, die Schwäbische Alb und das Schwarze Tor überblicken. Maximal hundert Jahre kann man diesen Ausblick genießen.

Locher schätzt, aufgrund seines Skeletts sei der Verfall des Turms nicht zu stoppen. In spätestens 30 Jahren beginnt der tragende Stahl zu rosten und verzehrt den Beton. Türme dieser Art werden deshalb irgendwann einfach gesprengt. „Es reicht vielleicht“, sagt Widmer, „wenn wir einen Quadratmeter erhalten.“ Michael Klein fände das schon irgendwie schade. Zum ersten Mal kann er sich vorstellen, dass ihm die Arbeit nicht langweilig wird.

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