Das RSO Stuttgart und das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg spielen in ihrer jetzigen Form ein letztes und ein vorletztes Konzert – und müssen sich im internationalen Wettbewerb neu sortieren.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Um einschätzen zu können, was sich gerade in jener Gegend dramatisch wandelt, die immer so schön romantisierend Orchesterlandschaft genannt wird, empfiehlt sich sowohl ein Blick auf die Spitze des Systems wie nach weiter unten. On Top sind da, kein Zweifel, die Wiener Philharmoniker: weltweit unterwegs und genau das, was man eine Marke nennt – nicht nur wegen des Neujahrskonzerts, das sich, absolute Ausnahme, noch als klassischer Tonträger vermarkten lässt. Diese Marke nun, sagt der noch relativ neue Orchestervorstand Andreas Großbauer, sei „momentan an der Kapazitätsgrenze“, die globale Nachfrage enorm. In dieser Situation sind die Philharmoniker darauf gekommen, dass es draußen, jenseits der Konzerthallen mit den „happy few“, noch so etwas gibt wie eine Gesellschaft. Und obwohl es etlichen Mitgliedern der Philharmoniker nicht passt, hat Großbauer dafür gesorgt, dass Spendengelder von einem Benefizkonzert in satt sechsstelliger Größe verwendet wurden für den Ankauf eines so genannten Orchesterhauses. Da wohnen, in St. Aegyd, jetzt Asylanten drin. Diakonie und Flüchtlingswerk betreiben es, die Philharmoniker zahlen. Gleichzeitig, sagt Großbauer in Unternehmereffizienzsprache, habe man „die Wertigkeit des Labels“ ausgenutzt und „Identitätsstiftung“ betrieben.

 

Man kann das respektieren oder pseudokaritativ nennen. Wie auch immer. Jedenfalls wird klar: noch nicht mal die ganz Großen in diesem, sagen, wir, wie es ist, ziemlich gnadenlosen Wettbewerb mit dem Verkauf von schöner Musikware, schlafen. Umso mehr sind alle gefordert, die an Qualität, repertoireübergreifend betrachtet, den Wienern und Berlinern und anderen aus der mondialen Superliga gar nicht viel unterlegen sind: also zum Beispiel das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart des SWR und das SWR-Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg, von September an fusioniert unter dem aus mehreren Gründen gewöhnungsbedürftigen Namen: SWR Symphonieorchester. Kein Bindestrich. Schreibweise wie im neunzehnten Jahrhundert.

Aus Feinden werden Freunde

Dieses neunzehnte Jahrhundert war, wie jetzt noch einmal vom RSO-Orchester im finalen Saison- und überhaupt Abschlusskonzert mit Hector Berlioz‘ dramatischer Sinfonie „Roméo et Juliette“ in der Stuttgarter Liederhalle zu hören, die Kernkompetenz des Orchesters. Sie konnten und sie liebten Mischklänge – ob unter Sergiu Celibidache oder, vibratolos und mit „Stuttgart Sound“, unter Roger Norrington. Und das Publikum, in Stuttgart und in der Welt, liebte dieses vergleichsweise sehr sensible, feine Orchester für die Kunst der Übergänge. Am Ende ist das dann auch nochmal alles mustergültig da. Dirigiert vom letzten Chefdirigenten Stéphane Denève, zeigt sich das Orchester namentlich dann besonders präsent, wo es, wie Eduard Hanslick einmal schrieb, um die „schöne Instrumentation an sich“ geht, also im „La reine Mab“-Scherzo des zweiten Teils: hinreißend insgesamt alle Bläser, die Celli, superpräzises Schlagwerk etc. Allein: hätte es dieses wunderbare Orchester mit dem SWR Vokalensemble (ohne NDR-Chor und Solisten) nicht auch getan? Mit Debussy, Bruckner, Mendelssohn? Umgedreht war auf die Schlussaussage von Berlioz‘ Stück zu achten. Aus Feinden (bei Berlioz die Capulets und Montagues) werden, angeblich, Freunde. Lies, höre und folgere: aus konkurrierenden Orchestern ein kollektiver, gut kommunizierender Klangkörper? Schon möglich.

Und es wird ja auch nicht anders gehen. So von ganz oben einsam beschlossen, so zu vollziehen. Die bisher amtierenden Orchestermanager sind zuversichtlich, müssen es sein – und hoffen, allerhand Widerstände überwinden zu können. Abgesehen davon, dass sie im Breisgau die Versetzung nach Stuttgart als feindliche Übernahme betrachten, gilt es sehr praktische Probleme zu lösen. Das neue Orchester ist allemal zu groß für seine Bestimmung, Umzüge sind zu leisten, neue Pultkollegen müssen sich arrangieren – und vieles mehr. Ob das SWR Symphonieorchester, neben einem neuen Eigenleben und einer ebenso neuen ideellen Ausrichtung, dann das hat, was es momentan braucht: mehr Flexibilität?

Der lange Ton zum ewigen Abschied

Kleines Ritardando: Es lohnt, neben dem Blick nach oben, auch der Blick ins Weite der Szene, und da muss er rasch fallen auf einen Mann wie den hochintelligenten Dirigenten Paavo Järvi, der analog zu Iván Fischers Budapest Festival Orchestra und Claudio Abbados Lucerne Festival Orchestra gerade in Estland ein Orchester aufbaut mit lauter guten Musikern, die er auf seinen bisherigen Stationen kennengelernt hat. Im Jahr 2017 will Järvi aktiv werden, und für die FAZ, die stets auch einen Blick für die wirtschaftliche Entwicklung hat, bedeutet Järvis Engagement schon mal „Unruhe in den Marktverhältnissen der europäischen Festivallandschaft“, wo sich auch das SWR Symphonieorchester wird tummeln müssen. Aber gut. Kommt Zeit, kommt Wettbewerb.

Womöglich können die Freiburger und Baden-Badener etwas speziellen Kampfgeist in die nächste Periode herüberretten, den sie bei ihrem Abschlusskonzert in dem – 1996 für sie gebauten, herrlich praktischen Konzertsaal – in der vorigen Woche noch einmal bewiesen haben. Nicht von ungefähr verabschiedete sich das SWR Sinfonieorchester bei einem Open Air in der Stadt und in intimerem Rahmen mit größter Entschlossenheit. Die Konzertauswahl durch Francois-Xavier Roth, der das fusionierte Orchester nicht mehr dirigieren wird, leider auch nicht in Donaueschingen, bedeutete: Das waren wir. Dafür standen wir. Und: Das kann keiner so wie wir, nämlich: György Ligetis „Atmospherès“, Pierre Boulez‘ „Notations I-IV“ und, Prototyp der Moderne überhaupt, Igor Strawinskys „Sacre“. Schließlich kam der lange Ton zum ewigen Abschied vom Klarinettisten Jörg Widmann, der noch einmal Mark Andrés Orchesterstück „über“ interpretierte, in Donaueschingen seinerzeit uraufgeführt und ausgezeichnet. Schwebend geht der Notentext ins Nichts über, wobei man meint zu hören, wie die Komposition weiter atmet, obwohl sie längst zu Ende ist. Ein Zeichen? Nehmen wir’s so. Es lebe, wo es nun nicht anders geht, das möglichst identitätsstiftende SWR Symphonieorchester – und es lebe, bitte: hoch. Und lange.