Elbphilharmonie, der Boom der Bregenzer Festspiele, das Currentzis-Phänomen, Musikvermittlung und Streaming statt CDs: Das haben die zehner Jahre in der klassischen Musik gebracht. Eine Bilanz.

Stuttgart - Eigentlich war alles wie immer. „Die Zauberflöte“ ist in Deutschland auch im vergehenden Jahrzehnt die beliebteste, am häufigsten gespielte Oper gewesen, gefolgt von „Hänsel und Gretel“ sowie – in gehörigem Abstand – „Tosca“, „La Traviata“, „Der fliegende Holländer“ und „Carmen“. Die Veranstalter traditioneller Konzerte haben weiter über Besucherrückgänge geklagt, über den „Silbersee“ älterer Besucher, über mangelndes Interesse an klassischer Musik bei jungen Besuchern. Die Anzahl der fest angestellten Orchestermusiker ist – vor allem aufgrund von Fusionen – seit 2010 in Westdeutschland um fünf Prozent, in Ostdeutschland um zwölf Prozent gesunken, während im Gegenzug die Anzahl der Veranstaltungen leicht zunahm.

 

Das hat auch mit der Zunahme von Formaten zu tun, die dem Publikum Kunst nahebringen. Dabei locken Kulturvermittler, also Dramaturgen, Pädagogen, aber auch engagierte Musiker nicht nur Kinder aus bildungsfernen Milieus, sondern bahnen auch einem älteren Publikum Wege zu einem leichteren Verständnis des Alten und Komplexen. Musik wird vermittelt: Dieser Trend hat im letzten Jahrzehnt deutlich an Dynamik zugelegt – und an finanzieller Unterstützung durch die öffentliche Hand.

Kunstvermittlung als Beitrag zu Integration, kultureller Teilhabe und sozialem Frieden

2010 lag die Zahl von Asylanträgen unter 50.000, 2016 war sie fünfzehn Mal so hoch. 2017 dokumentierte der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, dass 15,7 Prozent der deutschen Bevölkerung, also etwa 13 Millionen Menschen, in Armut oder an der Armutsgrenze leben – Tendenz steigend. Es ist einleuchtend, dass vor diesem Hintergrund die Politik Kunstvermittlung als wichtigen Beitrag zu Integration, kultureller Teilhabe und sozialem Frieden versteht. Und man versteht ebenfalls, dass die kulturellen Werte unserer Gesellschaft nur dann erhalten werden, wenn auch die nachwachsende Generation sie kennen- und wertschätzen gelernt hat. Dennoch mag man sich manchmal ganz schüchtern wünschen, Kunst und Kultur selbst würden mit ähnlicher Selbstverständlichkeit und Großzügigkeit bedacht wie die Wege zu ihr.

Die bildungsbürgerlichen Schichten, die auch ohne Vermittlungsarbeit die Oper und klassische Konzerte besuchen, bekommen allerdings auch von anderer Seite Konkurrenz. Mag sein, dass mancher nicht wirklich weiß, wer Dmitri Schostakowitsch war und was er bedeutete – aber wenn Teodor Currentzis eine seiner Sinfonien dirigiert, dann wollen alle in, dann halten Menschen vor der Stuttgarter Liederhalle Zettel mit den Worten „Karte gesucht“ in die Luft, und die Schlange vor der Kasse mit der Aufschrift „Ausverkauft“ reicht bis hinaus auf den Platz. Wären die Auftritte der Opernstars Anna Netrebko oder Jonas Kaufmann oder Plácido Domingo (trotz der gegen ihn aufgekommenen Vorwürfe sexueller Belästigung, die das Publikum offenbar nicht anfechten) nicht so teuer, dann wäre das auch bei ihnen der Fall.

Stars ziehen Publikum – und Gebäude können das auch

Stars ziehen Publikum. Dass dies auch einem Gebäude gelingen könnte, hätte vor der Fertigstellung der Elbphilharmonie Anfang 2017 niemand gedacht – so genervt war jeder (nicht nur in Hamburg) von dem Dauerbrennerthema der Baukostensteigerung. Heute denkt keiner mehr daran, dass die „Elphi“ zehn Mal so teuer war wie ursprünglich veranschlagt; heute will jeder hin, und die neueste Pressemeldung, derzufolge das spektakuläre Gebäude die Besucherzahlen der Hamburger Konzerthäuser seit 2016 verdreifachte, nimmt man fast schon als selbstverständlich hin. Auch die Bregenzer Festspiele sind im letzten Jahrzehnt zu Publikumsmagneten geworden: Wer da war, muss sich selbst beim Bäcker der bohrenden Frage stellen, wie das Bühnenbild am See denn wohl gewirkt habe und wie viele Akteure diesmal ins Wasser gesprungen seien. Mittlerweile wird nach Bregenz mit deutlich mehr Spannung geblickt als nach Bayreuth (wo es mittlerweile immer wieder mal noch spontan Tickets gibt) oder nach Salzburg.

Wie es weiter geht? Die Musikhochschulen sind voll, und wer Talent hat, findet ein reiches Fördersystem vor. So werden den Stars von heute neue nachwachsen, die dann ihre Produkte sicherlich zunehmend weniger auf Silberscheiben und mehr auf Streamingkanälen vermarkten. Dem auch in der Klassik spürbaren Trend zu gehypten Mega-Events wird eine sich weiter differenzierende, nach allen Richtungen immer offenere aktive Musikszene gegenüberstehen. Und in Zeiten des digitalen Overkills könnte außerdem das analoge Live-Konzert an Attraktivität gewinnen. Stillstand in der Klassik? Von wegen. Ohren auf!