Vor Aufregung haben sie schlecht geschlafen und standen viel zu früh vorm Schultor: Am Montag hatten viele Schüler zum ersten Mal seit einem halben Jahr wieder Unterricht live. Gymnasiasten aus dem Stuttgarter Hölderlin-Gymnasium berichten, wie fremd sich das anfühlt.

Stuttgart - Sie haben schlecht geschlafen und kamen am Montag viel zu früh zur Schule. Die meisten Schüler der Klassenstufen sieben bis zehn haben seit Mitte Dezember keinen Präsenzunterricht mehr gehabt – für viele von ihnen markiert der Montag nach den Pfingstferien und dem monatelangen Corona-Lockdown eine Art Neubeginn. Auch am Hölderlin-Gymnasium im Stuttgarter Westen war das so.

 

„Die ersten kamen schon um halb acht“, berichtet Schulleiter Matthias Wasel, der am Montag gut die Hälfte seiner Schülerschaft mit Hausmeister und Kollegen in Empfang nahm. Das Überpünktliche sei durchaus unüblich. „Die kamen fröhlich, neugierig“ – und auch ein bisschen abwartend, sagt Wasel.

Vor Aufregung die Schultasche mehrfach kontrolliert

Die beiden Neuntklässler Marie Gnauck und Arved Dengler und die Siebtklässlerin Sophie Hellwig räumen alle ein, sie seien ganz aufgeregt gewesen, lang wach gelegen, auch anderen sei das so gegangen, sagt Arved. „Es ist ein bisschen so, als ob man was Neues macht“, erklärt Marie. Und Sophie berichtet: „Ich hatte Angst, was zu vergessen.“ Also habe sie abends ihre Schultasche durchgeguckt – „und dann heute morgen nochmals alles kontrolliert“. In Vor-Coronazeiten wäre dies undenkbar gewesen.

Und dann durften sie endlich wieder ganz real ins Schulhaus. „Das ist schon ein bisschen komisch, von Klassenzimmer zu Klassenzimmer zu laufen und sich nicht mehr in einen anderen Raum einzuloggen“, sagt Marie. Und dann auch noch so viele Menschen auf einmal zu treffen, ergänzt Sophie. Und genau darauf habe sie sich am allermeisten gefreut: „Auf die Freunde. Dass man endlich wieder was zusammen machen kann. Und dass man nicht bei Moodle im Breakout-Raum ist, sondern mit echten Menschen zusammen.“ Denn im Breakout-Raum hätten sich viele eingeloggt, aber nichts gesagt. Das gehe jetzt nicht mehr so einfach.

Marie räumt ein, ihr hätten auch bei einem kreativen Fach wie Kunst die Mitschüler gefehlt, deren Hinweise und Anregungen – das gemeinsame Lernen eben. Sophie ergänzt, ihr hätten die Lehrer gefehlt: „Die waren ja nicht richtig da – das war eine Stimme hinter dem Rechner.“ Und Arved hat eine ganze Wahrnehmungsebene vermisst: „Das Humorvolle, das kommt im Online-Unterricht nicht so rüber. Man sieht online nicht, ob sich der andere freut, ob er lacht.“ Und nun genießen die Schüler, was früher mal selbstverständlich war: „Die Pausen, zusammen vespern, sich was zu erzählen“, sagt Sophie. Für Arved ist es dieses „Machen wir was in der Mittagspause?“. Dieses vermeintlich Nebensächliche. „Man lernt diese kleinen Sachen wieder schätzen“, so der 14-Jährige. Offenbar geht es nicht nur ihm so. „Alle waren besser drauf als vor Corona“, sagt Arved.

Für Marie ist die Sache klar: „Ich wünsch mir eine entspannte Lernatmosphäre – und dass man sich nicht so viele Gedanken über die Bewertung machen muss.“ Auch Arved hofft, „dass es nach den Klassenarbeiten etwas relaxter zugeht“. Vor allem aber, „dass die Schule nicht mehr geschlossen wird“. Und dass der Lateinausflug nach Rom stattfindet im nächsten Schuljahr. Denn viele Gemeinschaftsaktionen wie auch Schüleraustausche sind komplett der Pandemie zum Opfer gefallen. Auch Wasel bedauert das: „Man kann es nicht nachholen.“ Der Schulleiter hofft, dass die Kontakte zu den Partnerschulen in Frankreich und England überhaupt gehalten werden können.

Das Leistungsthema treibt nicht nur Arved um – diese Sorge, „dass man mit dem Arbeiten nicht hinterherkommt, der Druck, dass man die perfekte Note rausholt“. Sophie befürchtet „dass man den Überblick verloren und eine Lücke hat, die einem gar nicht so aufgefallen ist“. Dabei, ergänzt Arved, gäben sich die Lehrer „schon Mühe, dass deutlich wird, wo jeder steht“. Marie hingegen räumt ein: „Ich habe ein bisschen Angst vor dem Alltag.“ Vor diesem neuen Alltag, der sich nicht mehr ausschließlich zuhause abspielt, sondern Ortsveränderung, Bewegung, Begegnung bedeutet.

„Jetzt muss man sich erst an die neue Routine gewöhnen“, meint die 14-Jährige, die Veränderungen „nicht so gern mag“. Doch sie räumt auch ein, dass das pure Zuhausesein „einen runterzieht“, dass Schule nun einen anderen Stellenwert bei ihr habe „und dass man ein bisschen dankbar dafür ist, endlich mit den Menschen zu agieren und nicht mehr nur ihre Namen an der Seite aufgelistet zu sehen“. Da stimmen ihr Sophie und Arved zu.

Aber eines möchte der Neuntklässler noch zu Protokoll geben: „Ich glaub, dass die Mittelstufe vergessen wurde.“ Marie sieht das nicht so bitter. Schließlich hätten die Kursstufler und die Kleinen den Präsenzunterricht ja noch dringender gebraucht, argumentiert sie.