Der Intendant der Ruhrtriennale, Johan Simons, hat zum Auftakt Christoph Willibald Glucks „Alceste“ in der Bochumer Jahrhunderthalle inszeniert. Mit nicht ganz überzeugendem Ergebnis.

Bochum - Am Anfang ist die Bühne wüst und leer, und der Odem Christoph Willibald Glucks schwebt über einer riesigen, dunklen, leicht reflektierenden Plastikplane. Am Freitagabend definiert die lang gezogene Fläche auf dem Boden den Spielraum für die zweite Oper, in der Gluck und sein Librettist Ranieri de’Calzabigi 1767 dramaturgische Einfachheit, emotionale Wahrhaftigkeit und eine dem Text wieder dienende Musik auf die von barockem Zierrat überwucherte Opernbühne zurückbringen wollten. Der Regisseur Johan Simons, seit 2015 und noch bis 2017 Intendant des Festivals Ruhrtriennale, hat in der Bochumer Jahrhunderthalle die italienische Erstfassung von „Alceste“ inszeniert, die heute im Opernalltag neben ihrer neun Jahre jüngeren, stark überarbeiteten französischen Fassung ein Schattendasein fristet. Schlichter ist Glucks Ur-„Alceste“, direkter, roher, zuweilen auch rauer; der Chor hat eine tragende, auf antike Vorbilder zurückweisende Funktion, und stärker als in der späteren Version liegt der Fokus auf der Titelfigur.

 

„Wie viele widersprüchliche Gefühle überwältigen mein Herz!“, singt Alceste. „Ehrfurcht, Liebe, Staunen, Furcht, Schwäche und Tugend drängen sich abwechselnd in meiner Brust. In dieser unerhörten Verwirrung bin ich so gefangen, dass ich mich suche und nicht finde.“ Die Sopranistin Brigitte Christensen singt dies mit leichten Problemen in der Höhe, aber mit innerer Glut, schöner Mittellage und vor allem mit packender emotionaler Vertiefung.

Das Orchester gibt den Ton an

Eine Wahnsinnspartie ist diese italienische Alceste: das klingende Psychogramm einer Zerrissenen, die sich auch dann kaum fassen und begreifen lässt, wenn wie jetzt in Bochum kaum etwas auf der Bühne den Blick auf sie verstellt. Nur weiße Plastikstühle stehen oder liegen hier und da herum, mal als Bestuhlung für den gelegentlich zum Publikum mutierenden, sehr gut einstudierten Chor Musica Aeterna, mal zu Gruppen zusammengerückt wie bei einer Familienaufstellung, mal chaotisch zu einem Haufen aufgetürmt – Sperrmüllabfuhr im alten Griechenland. Die Bühne ist immer offen und einsehbar. Dies gehört zum sperrigen Charme des Orts.

Dass die Zuschauer die Spielfläche auf einer L-förmig angelegten Tribüne an einer sehr langen und einer kurzen Seite flankieren, macht die akustische Situation problematisch, zumindest für die Sänger, die auf der Plastikplane schreiten, robben und rennen. Manchmal hört man nur den Widerhall ihrer Stimmen, die von den kahlen Backsteinwänden und den stahlbogengestützten Dachfensterfronten des einstigen Industriegebäudes reflektiert werden. Das historische Orchester B’Rock hingegen beschallt in ziemlich zentraler Bühnenposition und unter der Leitung des agilen, gesangsaffinen und klangsensiblen Dirigenten René Jacobs die Reihen so ideal, dass man es rasch auch visuell als wichtigste gestaltende Kraft wahrnimmt.

Vor allem die Klangfarben des Orchesters gestalten die dramatischen Konflikte

Es sind die Farben, die Artikulation, die musikalischen Bilder, die Klänge der fein abgemischten Instrumente, der Posaunen, der Klarinetten-Vorgänger mit dem schönen Namen Chalumeau, der Oboen, des samtigen historischen Fagotts, des oft mit Harfenklängen ergänzten Hammerflügel-Continuos, der mal trocken und hart am Steg agierenden, mal weit ein- und ausatmenden Streicher, zwischen denen sich die Porträts der Figuren wie auch die Konflikte aufspannen; sogar den Herzschlag und den nahenden Tod Alcestes machen die Violinen hörbar. Dass mancher Einsatz nicht ganz auf den Punkt kommt, kann man vor diesem Hintergrund getrost vergessen.

Eine klare Antwort auf die zentrale Frage des Stücks kann die Musik allerdings nicht bieten. Was genau ist es, das die Titelheldin in den Opfertod treibt? Ist ihr Entschluss, dessen Radikalität uns heute so fern anmutet, Ausdruck eines altruistischen Gefühls, Folge tief verinnerlichter Geschlechterklischees, suizidale Sehnsucht eines depressiven Charakters? Will Alceste mit ihrer Rettungstat womöglich nur der Enge ihres Lebens entfliehen, dient ihr Entschluss zuallererst der Stärkung eines allzu geringen Selbstwertgefühls, ja womöglich gar der Demonstration von Macht gegenüber Zurückbleibenden, die immer die Schwächeren sind? Die Verhandlung dieser Fragen hätte man gern auf der Bühne gesehen. Stattdessen liest man Annäherungen an sie im Programmheft.

In der Regie gibt es viel Hilfloses

Zwar sieht man eine Frau, die sich weder von ihren Kindern noch von ihrem Ehemann wirklich berühren lässt, man nimmt wahr, dass die Götter des Stücks bei Johan Simons erwartungsgemäß nicht auftauchen, man amüsiert sich über den wunderbaren Bariton (und Stuttgarter Gesangsprofessor) Georg Nigl, der als Herold, Priester und Götter-Surrogat ein hervorragender zynischer Gestaltwandler ist, und man bemerkt einmal auch den wirkungsvollen großen Schatten, den Alceste bei ihrem Todesentschluss an die Rückwand der Halle wirft.

Ansonsten gibt es aber auch viel Hilfloses. Da läuft es hierhin und dorthin, da steht es irgendwie oratorisch auf der Bühne herum, da sitzt es auf Plastikstühlen und schreitet mit diesen einher; da wird ein schwarzer Plastikadler von rechts nach links getragen, und der König Admeto (Thomas Walker) vagiert diffus zwischen (Selbst-)Mitleid und Empörung herum.

Man spürt die Längen der italienischen Fassung von „Alceste“

So kommt es, dass man vor allem ab der Mitte des zweiten Akts die Längen des in seiner italienischen Fassung lyrischeren, undramatischeren Stücks spürt. Insgesamt trägt die Inszenierung weniger die Handschrift eines Regisseurs denn die eines Dramaturgen, der Thesen wagt, nicht jedoch ihre möglicherweise zu platte Verbildlichung; anstelle starker Bühnenaktionen erhaschen die Augen mit Glück nur kleine szenische Andeutungen.

Es mag sein, dass sich ein differenziertes Charakterporträt der Alceste mit groben Strichen gar nicht zeichnen lässt, dass also die „schöne Einfachheit“, die der Komponist im Vorwort zu seiner Oper einfordert, zumindest für heutige Regisseure ein unauflösbarer Widerspruch in sich bleiben muss. Allerdings lässt Johan Simons in seiner Inszenierung auch die zentrale Frage unbeantwortet: Warum er diese Oper überhaupt auf die Bühne bringt, was ihn ausgerechnet zu dieser „Alceste“ getrieben hat. Und das mag man ihm nun wirklich nicht nachsehen.