Nach drei Monaten Stillstand erwacht die Stuttgarter Altstadt in der Nacht langsam wieder zum Leben. Eine Bar nach der anderen öffnet im Rotlichtviertel – nur Bordelle bleiben zu. Ein Rundgang.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Durchgängig rot ist das Leonhardsviertel nicht, aber an einigen Häuser leuchtet die Farbe der Straße wieder. Vor einer Animierbar an der Weberstraße steht eine Frau, von der man nicht viel sieht. Sie ist blond, ihr halbes Gesicht ist von der Maske bedeckt. „Hallo Süßer“, ruft sie einem Mann hinterher.

 

Der „Süße“ steuert das Fou Fou wenige Meter weiter an. Auch vor der Cocktailbar, wo Stühle und Tische im Freien stehen, trägt das Personal Maske. Wirt Andreas Schuster ist happy, dass die Zeit des Nichtstuns und Nichtverdienens endlich rum ist. Mitte Mai hatte er sich an Ministerpräsident Winfried Kretschmann gewandt und ihm in der Coronakrise „Weitsicht und Zuversicht“ bescheinigt. Dass man Bars wie seiner selbst im Außenbereich den Betrieb verwehrte, konnte der Szenewirt jedoch nicht verstehen. Endlich darf er wieder! Das Eros Center dahinter bleibt geschlossen.

Ohne suchende Freier ist das Viertel nicht geblieben

Bis vor kurzem waren Kneipen, Bars und Clubs im Stufenplan der Landesregierung – auf einer Ebene mit Prostitution – auf dunkelrot geschaltet. Über das plötzlich erteilte grüne Licht freuen sich die Wirte des Leonhardsviertels sehr, von denen sich Abend für Abend immer mehr zurückmelden. Seit wenigen Jahren befindet sich die Altstadt im Wandel. Junge Wirte bereichern mit neuen Farben ein Viertel, in dem das Sexgewerbe nicht mehr alles ist. Ein neues Miteinander setzt sich durch – doch seit Freitag, dem 13. März, war alles lahmgelegt.

„Ältere Nachbarn berichten, dass sie die Altstadt noch nie so tot erlebt haben“, sagt Robin Giesinger, der die Puf-Bar unweit des Sieglehauses wieder geöffnet hat (sein Rocco folgt am 12. Juni nach Konzeptanpassung), „nicht mal in Zeiten des Zweiten Weltkriegs sei es so still gewesen.“ Ganz ohne suchende Freier ist das Viertel trotzdem nicht geblieben.

„Im Internet boomt der käufliche Sex“

„Immer mal wieder laufen Männer durch, die schauen, ob nicht vielleicht doch eine Tür aufgeht“, sagt Fou-Fou-Chef Schuster. Messalina-Inhaber John Heer ist sicher: „Drei Monate ohne Prostitution, das gibt es in einer Großstadt nicht.“ Im Internet boome der käufliche Sex. Dass nun einige Animierbars im Leonhardsviertel geöffnet haben, er aber sein Table-Dance Messalina wie auch sein Laufhaus geschlossen hält, erklärt er so: „Etliche Animierlokale haben eine Barkonzession, aber Table-Dance wird als Prostitutionsgewerbe eingestuft.“ An Sozialminister Manfred Lucha hat er sein Hygienekonzept für Laufhäuser geschickt, und eine freundliche, aber ablehnende Antwort bekommen. Jetzt wartet die Altstadt auf eine richterliche Entscheidung, nachdem Mannheimer Bordellbetreiber gegen Ungleichbehandlung klagen. Während Kosmetik- und Tattoo-Studios, bei denen es direkt an die Haut geht, starten dürfen, bleibt die Ampel bei sexuellen Dienstleistungen auf dunkelrot.

Politikerinnen wie Leni Breymeier (SPD) wollen, dass es so immer bleibt. Auch nach Corona müsse Prostitution verboten sein, um Frauen nicht zur Ware zu machen. Das „Städtle“ ohne Milieu kann sich indes Szenewirt Robin Giesinger nicht vorstellen: „Das Rotlicht ist hier Teil der Geschichte und hat das Viertel geprägt wie kein anderer Wirtschaftszweig. Das Rotlicht gehört einfach zu unserer ,Normalität’ dazu.“

Die Wirtin der Uhu-Bar sieht das Positive

Während in der Uhu-Bar das Laufhaus im ersten Stock dicht ist, wird unten aufgemacht. Die wichtigste Nachricht: Der Altstadt-Legende Oskar Müller, dem 82-jährigen Wirt, der stets am Eingang auf seinem Sofa sitzt, geht es gut. Auf seinem Stammplatz kehrt er zurück – gemeinsam mit Wirtin Klaudia Kacijan, die optimistisch nach vorne schaut. „Klar ist das wenig, wenn nur zehn Gäste in die Bar dürfen, aber wir setzen auf den Außenbereich. Wir profitieren davon, dass es n diesem Sommer keine Straßenfeste gibt und die Leute nicht verreisen wie gewohnt. Schlechter wie sonst kann es bei uns nicht werden.“

Die Jakobstube, der Goldene Heinrich, die Lido-Bar, der Leonhardshof, die Bar 66, die Tabu-Bar, Bonatical Affairs und andere haben wieder auf. Die Flüsterbar Holzmaler im Stil der 1920er will raus aus ihrem Versteck. Bisher deutete von außen nichts darauf hin, was für ein Theken-Schmuckstück sich hinter grauer Wand befindet. „Es ist schon verwunderlich, wie schnell die Freigabe kam“, sagt Wirt Jörg Kappler. Einen Antrag hat er gestellt, auch den Außenbereich „bespielen“ zu dürfen. Vor 100 Jahren wurde in den USA der Alkohol verboten. „Jetzt stehen wir erneut vor ungeahnten Einschränkungen unseres Lebens mit ungewisser Zukunft“, stellt Kappler fest.

Künstler Jürgen Leippert ist zurück in der Altstadt

Als „Toulouse-Lautrec der Altstadt“ wurde Jürgen Leippert bezeichnet. Die Arbeit des Künstlers, der am Donnerstag seinen 76. Geburtstag gefeiert hat, beschränkt sich aber nicht nur auf Separees, auf die Einsamkeit und das Elend im Rotlichtviertel. Seine Landschaftsbilder und Großstadtstudien sind eindringliche Kompositionen aus Realität und Fantasie. Oft hat er sie zigfach übermalt, so dass zentimeterdicke Schichten reliefartig eine fast dreidimensionale Wirkung erzeugen. Jetzt ist er zurückgekehrt in seine alte Heimat. Im Künstlertreff 50 qm stellt er im Atelier-Ambiente aus. Als „50 traurige Meter“ hat er mal die Leonhardstraße bezeichnet. „Wehmut“ hat er gespürt nach seinem Wegzug. Jetzt, da das Leben in der Altstadt erwacht, ist er froh, wieder „daheim“ zu sein.