Ein Rundgang durch den Stadtbezirk zeigt, wie unterschiedlich die Anforderungen an Barrierefreiheit sind – und wo im Bezirk die Schwachstellen liegen.

Stuttgart-Ost - So langsam füllt sich der Block von Charlotta Eskilsson. Die Bezirksvorsteherin aus Stuttgart-Ost hat an diesem Abend ein offenes Ohr für ihre Wegbegleiter und auch die anderen Sinne sind geschärft bei einem besonderen Spaziergang, der vom Schmalzmarkt hinunter zum Ostendplatz führt. Mit dabei waren auch andere Mitglieder des Bezirksbeirates sowie Sehbehinderte und Rollstuhlfahrer. Auf der Agenda standen folgende Fragen: Wie barrierefrei ist der Stadtbezirk? Sind Wege, Plätze und Gebäude für Menschen mit Handicap erreichbar? Wie steht es um Geschäfte und Restaurants? Sind die Busse und Bahnen barrierefrei zugänglich? Schon nach wenigen Metern wird der Gruppe klar – unsere Städte und deren Gehsteige sind für schnelle, fitte Menschen gebaut – am besten ohne Rollatoren, Kinderwagen oder Koffer.

 

Barrierefreiheit ist früher oder später für jeden ein Thema

Dabei ist Barrierefreiheit ein Thema, das früher oder später alle betrifft und nicht nur Menschen mit einem Handicap. Denn schnell kann es auch für bislang gesunde Menschen zu einem Perspektivwechsel kommen, wenn sich das eigene Leben durch eine Erkrankung, einen Unfall oder vor allem durch das Alter verändert. Barrierefreiheit ist jedoch eine Grundvoraussetzung, damit alle Menschen am gesellschaftlichen Leben in der Stadt teilhaben können. Eine Stadt, in der sich alle wohl und sicher fühlen und in der alle überall hinkommen, das ist in der Umsetzung gar nicht so leicht, denn Senioren haben andere Bedürfnisse als Kinder. Blinde Menschen andere als Rollstuhlfahrer. Das wird auch beim Rundgang deutlich. „Ein blinder Mensch braucht die Bordsteinkante als Begrenzung zur Straße, für einen Rollstuhlfahrer kann die Bordsteinkante dagegen eine unüberwindbare Barriere sein“, sagt Simone Fischer, die städtische Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung.

Wer Barrierefreiheit anstrebt, benötigt deshalb innovative Lösungen. Wenn sich zum Beispiel auf dem Gehweg am Bordsteinrand eine kleine taktile Linie befindet, die ein Sehbehinderter oder Blinder mit dem Langstock fühlen kann, kann der Bordstein auch abgeflacht sein, und die Betroffenen würden dennoch nicht auf die Straße laufen. Gleichzeitig passt das dann auch für die Rollis. Auf dem knapp einen Kilometer langen Weg wird schnell klar, Stolpersteine lauern überall – auch auf der Gablenberger Hauptstraße: Ein Verkehrsschild mitten auf dem schmalen Bürgersteig, die scharfe Metallkante des Dreiecks, genau in Kopfhöhe, niedrig hängende Wahlplakate, Radabstellplätze oder Händlerschürzen. Aber auch im Weg stehende Baugerüste und nicht markierte Straßenpoller sind ein Problem. Die Farbe der Poller sind von dem Grau der Straße nicht leicht zu unterscheiden. Stärkere Kontraste wie die weiß-roten Signalstreifen müssen her.

Viele Hürden auch für kleinwüchsige Menschen

Die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verhindern aber auch Treppenstufen auf dem Weg in ein Lokal oder Geschäft – auch im Osten fehlen Rampen. Ein Rollstuhlfahrer, der mit dem Auto selbstständig fahren kann, zeigt auf einen Behindertenparkplatz, der nicht die geforderte Breite von 3,50 Meter hat und für ihn damit nicht in Frage kommt, weil er zu wenig Platz zum Aussteigen bietet. Auch dieser Missstand findet Eingang in den Aufschrieb von Eskilsson. „Es ist auch für die Stadt nicht immer einfach, allen gerecht zu werden“, sagt Simone Fischer. Sie zählt zu den rund 100 000 kleinwüchsigen Menschen in Deutschland, und der Alltag kommt ihr oft ganz schön groß vor. So ist das Abheben am Geldautomaten oft ebenso schwierig wie das Lösen eines Tickets an Bushaltestellen oder U-Bahn-Stationen. Aber auch für Menschen mit hoher Sehbehinderung ist es fast unmöglich, einen Geldautomaten zu benutzen. Und das, obwohl sich Barrierefreiheit mit einer akustischen Menüführung leicht herstellen ließe. Bis Ende Juni 2025 müssen digitale Produkte in Europa barrierefrei sein.

Ostendplatz schneidet gut ab

Simone Fischer fällt aber positiv auf, dass es an der Bushaltestelle Libanonstraße immerhin Bänke mit unterschiedlichen Sitzhöhen gibt. Einen hohen Bordstein, damit man ebenerdig in den Bus einsteigen kann, gibt es hier allerdings noch nicht. In Stuttgart läuft jedoch ein Projekt, bei dem sukzessive alle Bushaltestellen barrierefrei gemacht werden. In der Bewertung der Gruppe schneidet aber zumindest der Ostendplatz ganz gut ab – mit seinen zahlreichen stufenlosen Eingängen in Banken, Supermärkte, Apotheken oder in Arztpraxen. Aber auch hier müssten die Aufmerksamkeitsfelder und Leitlinien nachgebessert werden. „Ich habe mit meinen Kolleginnen und Kollegen ein ganz neues Bewusstsein für die täglichen Probleme in Sachen Barrierefreiheit entwickelt“, sagt Charlotta Eskilsson und weiß – es gibt auch im Osten noch viel zu tun, hin zu einem Gehweg für alle.