Schanna Nemzowa setzt den Kampf ihres Vaters Boris für ein freies und unabhängiges Russland gegen Wladimir Putin fort.

Bonn - Innerhalb weniger Monate ist sie zu einer Ikone der russischen Opposition geworden. Ein mutiges Buch hat sie geschrieben („Russland wachrütteln“), und jetzt war ihr erster großer öffentlicher Auftritt in ihrer Wahlheimat Deutschland: Schanna Nemzowa kämpft unerschrocken dafür, dass Russland ein freies, demokratisches Land wird. Das Mittel ihrer Wahl: Öffentlichkeit herstellen. Dafür lud sie zur Verleihung des Preises der Boris-Nemzow-Stiftung nach Bonn – just am russischen Unabhängigkeitstag.

 

Für ein unabhängiges Russland

Den Termin hat sie mit Bedacht gewählt. „Ich denke, was Russland braucht, ist Unabhängigkeit“, sagt die Tochter des im Februar 2015 ermordeten russischen Oppositionellen Boris Nemzow. Für den Wandel in Russland will die Anfang des Jahres von ihr gegründete Stiftung einen Beitrag leisten, Verbündete gewinnen. Der Putin-Gegner Lew Schlossberg gehört dazu: Er erhält den mit 10 000 Euro dotierten Preis, den die Stiftung in Kooperation mit der FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung alljährlich an eine Person vergibt, „die außerordentlichen Mut im Kampf um demokratische Werte und Menschenrechte sowie ein freies Russland zeigt“.

Schlossberg, ehemaliger Abgeordneter im Regionalparlament des nordwestrussischen Gebiets Pskow, hatte in einer Regionalzeitung nach Angaben der Stiftung Informationen über geheime Beerdigungen von russischen Fallschirmjägern veröffentlicht, die in der Ukraine gefallen waren. Kurz danach wurde er von Unbekannten zusammengeschlagen. Boris Nemzow sprach Schlossberg damals seine Unterstützung aus: „Ich denke, nun nahm Putins Gesindel Rache an ihm. Das ist ganz klar politischer Terror, politischer Terrorismus, weil eine Person für ihr gesellschaftliches Engagement angegriffen wurde. Gott sei Dank, er lebt und sein Leben ist außer Gefahr.“ 2015 wurde Schlossberg, einziger Vertreter der liberalen Jabloko-Partei, im Parlament von Pskow das Mandat entzogen.

Russische Oppositionelle in Deutschland

Nemzowa fühlt sich in Deutschland wohl, wo russische Oppositionelle auch in höchsten Kreisen Gehör finden. Vor wenigen Tagen wurde die russische Menschenrechtsaktivistin Ljudmilla Alexejewa von Bundespräsident Joachim Gauck in Berlin empfangen. Gauck habe der 88-Jährigen einen „mutigen und heldenhaften Kampf“ für die Menschenrechte bescheinigt, Alexejewa ein eher „düsteres Bild“ der aktuellen Situation gezeichnet, hieß es Teilnehmerkreisen. Als Leiterin der Moskauer Helsinki-Gruppe schaltet sie sich immer wieder in aktuelle Diskussionen ein – sei es über den Konflikt in der Ukraine oder über die Einschränkungen für Nichtregierungsorganisationen. Für ihren Einsatz erhielt sie 2009 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland sowie den Sacharow-Preis des EU-Parlaments.

Genauso engagiert ist Nemzowa, die das politische Erbe ihres Vaters übernommen hat. „Er war ja sehr tapfer in seinem Kampf für ein demokratisches Russland.“ Und sie setze jetzt seine Arbeit fort. „Das ist eine große Verantwortung“, sagte sie unserer Zeitung. Es gebe ja viele Menschen, die ihre Initiative unterstützen, und für die sehe sich in der Pflicht. „Ja, ich weiß, ich bin nicht perfekt, aber ich arbeite an mir“, räumt sie mit einem Lachen ein. Auf jeden Fall ist sie temperamentvoll, fröhlich, selbstbewusst, voller Energie und Tatendrang.

„Von Natur aus stark“

Ganz wie ihr Vater, den sie schon vor seiner Ermordung nach Kräften unterstützte: Bei einer Protestveranstaltung gegen Wladimir Putin war sie an seiner Seite, beim Spendensammeln hat sie geholfen, auch als er kurzzeitig im Gefängnis saß. „Von Natur aus stark“, sagt sie über sich. Eine Selbstcharakterisierung, der man nicht widersprechen kann. Seit dem bis heute nicht aufgeklärten Attentat an ihrem Vater unweit des Kremls ist sie noch aktiver geworden. Für sie steht fest: Die Schüsse waren politisch motiviert. „Seit langer Zeit stand mein Vater, wie auch andere Oppositionsführer, unter Druck. Dieser Druck wurde zu Gewalt und mündete in diesen Mord. Er kam wesentlich von den Behörden und von der russischen Fernsehpropaganda. Ziel war es, die politischen Aktivitäten meines Vaters zu stoppen und Leute einzuschüchtern.“

Russland hat sie nach der Tat den Rücken gekehrt, jetzt arbeitet Nemzowa für die Deutsche Welle in Bonn. Die Startfinanzierung für Preis und Stiftung kommt aus den Einnahmen ihres Buches und Preisgeldern. Im vergangenen August hatte sie etwa den mit einer Million Euro dotierten Lech-Walesa-Preis in Warschau aus den Händen des polnischen Friedensnobelpreisträgers erhalten.

Die Lage ist nicht hoffnungslos

Nemzowa ist eine scharfe Kritikerin der russischen Politik. „In Russland haben wir keine normalen demokratischen Verhältnisse.“ Das Erbe der Sowjetunion sei immer noch lebendig, und Putin nutze die Nostalgie zur Festigung seiner Macht. Aber hoffnungslos ist die Lage nicht: „Es gibt noch unabhängige Stimmen in Russland, Leute, die dem Regime die Stirn bieten.“ Nemzowa trägt den Optimismus in ihrem Herzen – Russland ohne Putin, das ist ihr Ziel. Doch wie es danach weitergehen soll, ist für sie auch nicht ausgemacht. Die verschiedenen Dissidentengruppen – Liberale, Sozialisten, Nationalisten – hätten unterschiedliche Vorstellungen über die Zukunft des Landes.

Eine ungestüme Revoluzzerin ist die junge Frau nicht – am Schluss ihres mit Herzblut geschriebenen Buches schreibt sie: „Mein Vater war immer gegen eine Revolution. Er lehnte Gewalt ab und betonte, einen friedlichen Machtwechsel zu wollen.“ So denkt auch die Tochter, und sie zitiert ihren Vater: „Ich möchte die Glocken zu Läuten bringen“, sagte er einmal, als er auf einen Glockenturm stieg. „Ich will Russland wach rütteln.“ Die 32-jährige ist sicher: „Seine Ideen, seine Ideale leben. Ich hoffe, Russland wird so, wie er es sich erträumt hat.“