90 Prozent der Polen fürchten, dass Russland für sie eine ernste Bedrohung darstellt und ihr Land Putins nächstes Ziel sein könnte.

Polens Präsident Andrzej Duda schlägt im politischen Alltag meist sachliche Töne an. Deutlich schärfer wird der 50-Jährige aber, wenn es um Russlands Angriffskrieg in der Ukraine geht. Am Mittwoch rüffelte er Bundeskanzler Olaf Scholz, weil der es immer wieder mit Telefondiplomatie versucht. Es bringe nichts, mit Kremlchef Wladimir Putin zu sprechen, sagte Duda und fragte: „Hat jemand im Weltkrieg mit Hitler gesprochen? Alle wussten: Man muss ihn besiegen.“

 

Die Härte dürfte auch mit Dudas Familiengeschichte zusammenhängen. Die Nazis folterten seinen Großonkel zu Tode, weil der als Partisan gekämpft hatte. Ähnliche Szenen spielen sich in der Ukraine ab. Russische Soldaten foltern, morden und vergewaltigen. Psychologen sind überzeugt, dass etwa die Bilder aus Butscha das Zeug haben, Menschen mit Kriegserfahrung zu retraumatisieren. In abgeschwächter Form gilt das auch für Nachfahren. Und weil in Polen fast jede Familie Geschichten wie die von Dudas Großonkel zu erzählen hat, befindet sich das Land seit dem 24. Februar in einer Art kollektivem Ausnahmezustand.

Das sowjetische Massaker ist unvergessen

Zumal auch dies zu den historischen Erblasten gehört: Als die deutsche Wehrmacht das Land 1939 überfiel, marschierte wenig später die Sowjetarmee von Osten her ein. Im Jahr darauf ermordeten die Sowjets in den Wäldern rund um Katyn mehrere Zehntausend Offiziere, Polizisten, Ärzte, Anwälte und Intellektuelle. Es war ein gezielter Vernichtungsschlag gegen die Vorkriegselite. Kein Wunder, dass fast 90 Prozent der Polen überzeugt sind, Russland stelle heute erneut eine existenzielle Bedrohung dar.

Angesichts solcher Umfragewerte haben die politisch Verantwortlichen jede Zurückhaltung abgelegt. Ministerpräsident Mateusz Morawiecki erklärt, Putin habe eine „totalitären, nationalistischen und aggressiven Staat“ geschaffen. Russland wolle „das Imperium wiederherstellen“. Die Regierung in Warschau unterstützt die Ukraine auf ganzer Linie. Polen hat mehr als drei Millionen Geflüchtete aufgenommen und setzt sich in Brüssel für einen schnellen ukrainischen EU-Beitritt ein. Das Land liefert schwere Waffen drängt in der Nato, alles zu tun, damit Russland den Krieg verliert.

Morawiecki will einen Regimewechsel in Moskau

Morawiecki will sogar einen Regimewechsel in Moskau: „Wir möchten, dass Putin von der Macht entfernt wird.“ Der Kremlchef sei ein Kriegsverbrecher. „Wofür er in der Ukraine verantwortlich ist, übersteigt jede Vorstellungskraft. Ich denke, wir sollten ein internationales Tribunal schaffen, um für Gerechtigkeit zu sorgen, wenn der Krieg vorbei ist.“ Anders als einst bei den Massakern von Katyn. Damals wiesen die Sowjets die Taten den Deutschen zu. Nur wer diese Geschichte kennt, kann Sätze wie diesen einordnen: „Wir sind stolz, oben auf Putins Liste der unfreundlichen Staaten zu stehen.“ So sagt es Klimaministerin Anna Moskwa.

In Russland stößt all das auf scharfe Reaktionen. Kremlsprecher Dmitri Peskow erklärt, Polen könne sich zu einer „Quelle der Bedrohung“ entwickeln. Drastischer ist die Wortwahl in den Propaganda-Talkshows des Staatsfernsehens. Der Duma-Abgeordnete Oleg Matwejtschew sprach dort kürzlich von einer möglichen polnischen Intervention in der Ukraine und warnte: „Dann werden Polens Grenzen keinen Bestand haben.“ Droht da eine Eskalation zwischen Russland und dem Nato-Staat Polen?

Putin hatte gefordert, die Nato-Osterweiterung rückgängig zu machen

Fast alle Fachleute sind sich einig, dass das der erste Schritt in einen Weltkrieg wäre. Zugleich weisen sie darauf hin, dass Putin vor dem Überfall auf die Ukraine einen Rückzug der Nato auf die Positionen von 1997 gefordert habe, also vor den Osterweiterungen des Bündnisses. Russland beansprucht demnach eine Einflusssphäre auf dem Gebiet des ehemaligen Warschauer Paktes, Polen inklusive. Justyna Gotkowska vom Warschauer „Zentrum für Oststudien“ sagt: „Wenn sich die Nato aus der Region zurückzieht, sind in ein paar Jahren wir dran.“