Die stattliche Tanne auf dem Rathausplatz lässt ihre 35 Jahre Revue passieren.

Rutesheim - Als großer, schöner Tannenbaum stehe ich hier vor dem Rathaus in unserer Stadt, geschmückt mit vielen, vielen Lichtern in meinem Nadelkleid und freue mich, als leuchtender Weihnachtsbaum die Menschen, die hier leben, beglücken zu dürfen.

 

35 Jahre bin ich alt geworden, eigentlich kein sehr hohes Alter. Aber meine Herrin hat, wenn starke Stürme über das Land brausten, Sorge bekommen, dass meine flachen Wurzeln mich nicht mehr tragen und ich auf das Haus stürzen könnte. Schweren Herzens haben wir Abschied voneinander genommen. Mein hoher Wipfel, der im Stadtteil Mahdenwiesen alles überragte und den man schon von Weitem sehen konnte, unter dessen starker Krone man vor Sonne, Regen und Wind Schutz fand, den gibt es dort nicht mehr.

Ich habe meinen Hausherren 35 Jahre gedient. Als kleines Bäumchen schenkten mich Freunde der Hausfrau zu deren 60. Geburtstag. Man setzte mich auf einen kleinen Tisch im alten Gemeindesaal von St. Raphael. Hier war eine nette Geburtstagsgesellschaft versammelt, Kinder, Enkelkinder, Verwandte und liebe Freunde. Die Enkelkinder brachten mit etwas Mühe der Großmutter ein Ständchen. Mit dem jüngsten Enkelkind begann eigentlich mein Leben.

Von Freunden der Jubilarin wurden Papierherzen, Englein und Sterne verteilt, die Gäste sollten Glückwünsche verfassen und darauf schreiben. Diese hat meine Herrin aufbewahrt, und, man glaubt es kaum, sie gingen in Erfüllung! Nun ist sie 95 Jahre alt geworden, von den Freunden der damaligen Geburtstagsfeier gibt es nicht mehr viele.

Mit viel Liebe großgezogen

Ich, das kleine Tannenbäumchen, wurde damals vorsichtig nach Hause getragen und im großen, winterlichen Garten eingepflanzt. Viel, viel Liebe wurde mit hineingelegt, ich sollte dem jüngsten Enkel gewidmet werden und mit ihm zu einem stolzen Baum heranwachsen. 35 Jahre alt ist der Enkel jetzt. Lichter kamen auf meine Zweige, ich wurde ein Weihnachtsbäumchen im Garten für viele Jahre.

Sobald die wärmenden Sonnenstrahlen im Frühling die Natur zum Blühen brachten, schob auch ich frische, junge Spitzen aus meinen Zweigen. Bald war ich so groß, dass man mir keine Lichter mehr aufstecken konnte.

In unserem Wohngebiet Mahdenwiesen hatte sich in all den Jahren seit 1963 ein reges Leben entwickelt. Fast in jedem Haus wuchsen Kinder heran. Sie tobten, lachten, spielten Fußball, studierten und flogen hinaus in die Welt. Dann schaukelten Enkelkinder in den Gärten und gingen auch wieder davon. Ich beobachtete von meiner hohen Warte aus alles genau. Ich sah, wie wichtig die Nachbarn wurden, wie man sich schätzte und brauchte. Mahdenwiesen war Heimat für alle geworden. Besonders auch für die, denen man die Heimat genommen hatte. Als die Glocken von St. Raphael am 4. Advent 1963 zum ersten Mal läuteten, da wurden auch die Herzen der ganz alten Heimatlosen dankbar.

Das Abschiednehmen hat begonnen

35 Jahre alt, das Abschiednehmen hat begonnen. Ich erlebe, wie in den letzten Jahren immer wieder ein lieber Nachbar abberufen wird, wie meine Lieben traurig sind, die Häuser leer werden und es einsamer wird. Es tut weh. Aber Kinderlachen kommt zurück, junge Familien ziehen hier ein, bauen, finden ein neues Zuhause. Für alle Menschen in dieser Stadt will ich in diesem Jahr noch einmal meine ganze Pracht zeigen und leuchten will ich. Das Glück der Weihnacht kehre bei allen ein. Hier, in unserer Stadt, erlebte meine Herrin die schönste Zeit ihres Lebens.

Wenn mein geliebter Hausherr noch bei ihr wäre, dann würde er gewiss aus einem großen Stück meines dicken Stammes einen Rübezahl herausschnitzen. Er liebte doch Holz so sehr. Mit Beil und Messer entstünde der Berggeist der böhmischen Heimat. Aber er ist ja nach Aussage der Urenkelin beim Nikolaus und den Englein da oben.

Gesegnete, frohe Weihnacht!

Die Autorin

Die Wahl-Rutesheimerin Annelies Schermaul feiert am Samstag, 7. Dezember, ihren 95. Geburtstag. Sie ist eine geborene Erzählerin. Ihre Geschichten, inzwischen in fünf Büchern erschienen, sind Lebenserinnerungen, sowohl aus der alten böhmischen Heimat, als auch aus der hier gefundenen Heimat in Rutesheim. Es sind Geschichten von Anlässen, Gebäuden und Menschen, in einem ganz persönlichen Stil.