Am Dienstag geht es los: Das Projekt „Aufstehen“ von Sahra Wagenknecht ist eine Kopfgeburt und hat dennoch viele erfolgreiche Vorbilder in ganz Europa, weil die Volksparteien in der Krise stecken – meint unser Berliner Korrespondent Christopher Ziedler.

Berlin - Auf der politischen Bühne der Bundesrepublik greift diese Woche eine neue Akteurin ins Geschehen ein. Eine neue außerparlamentarische Bewegung namens „Aufstehen“, die am Dienstag offiziell aus der Taufe gehoben wird, will sich künftig für soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz und Friedenspolitik einsetzen. Ob sie eine Haupt-, Neben- oder Statistenrolle übernimmt, muss sich noch zeigen. Allein ihr Erscheinen jedoch zeugt schon von tief greifenden Veränderungen nicht nur in der deutschen Parteienlandschaft.

 

Was sich da als Sammlungsbewegung mit der Linkspartei-Fraktionschefin Sahra Wagenknecht an der Spitze ankündigt, ist erst einmal eine Kopfgeburt. Am Reißbrett zusammen mit ihrem Ehemann und früheren SPD-Chef Oskar Lafontaine entworfen, soll „Aufstehen“ die Spaltungen links der Mitte, zu denen die Protagonisten selbst eine Menge beigetragen haben, überwinden. Sozialdemokraten, Grüne und Linke, die im Bundestag nicht einmal zusammenfanden, als sie eine rechnerische Mehrheit hatten, sollen unter dem Druck der Straße und aus dem Netz irgendwann wieder gemeinsame linke Sache machen.

Erfolgreiche Kopfgeburten

Auch wenn es sich nicht um eine von unten getragene Graswurzelbewegung wie einst die Anti-Atom- oder die Friedensbewegung handelt, muss das nicht das Scheitern bedeuten. Es gibt genug Erfolgsbeispiele für solch künstlich erzeugte Sammlungsbewegungen – die bekannteste heißt „En Marche“, hat Emmanuel Macron in den Präsidentenpalast gespült und das alte Parteiensystem Frankreichs pulverisiert. In Italien regiert seit gut 100 Tagen die linkspopulistische Fünf-Sterne-Bewegung mit, die der Kabarettist Beppe Grillo ins Leben rief. Und klassische Parteien gewinnen, wenn sie sich nur den Anschein einer Sammlungsbewegung verordnen – so firmierte etwa Österreichs Volkspartei bei den Wahlen als „Liste Sebastian Kurz“.

Die Sammlungsbewegung liegt somit im Trend – eher als Mittel zum Zweck denn als gewachsene Struktur. Ihre Attraktivität speist sich vor allem aus der tatsächlichen oder nur vorgetäuschten Abgrenzung zum gewachsenen Parteiensystem.

Der deutsche Begriff der Volksparteien meint im Prinzip nichts anderes – auch sie sollen unter einer gemeinsamen Überschrift verschiedene Flügel und Strömungen versammeln. Genau deshalb weist das Grundgesetz den Parteien eine so zentrale Rolle bei der politischen Willensbildung zu. Die Bindekraft der großen traditionellen Lager von Christ- und Sozialdemokraten hat in einer sich ausdifferenzierenden Gesellschaft jedoch nachgelassen – in die Lücken sind erst die Grünen, später die Linkspartei und aktuell die AfD gestoßen. Die erfolgreichen Neugründungen sind Ausdruck der Schwäche und der Stärke des Parteiensystems zugleich – und für Union wie SPD Anlass genug, derzeit selbst über neue Grundsatzprogramme zu beraten.

Gegengewicht zur völkischen Sammlungsbewegung?

Die Furcht derer, die immerhin über viele Jahrzehnte für Stabilität und Wohlstand gesorgt haben, vom zunehmenden Groll auf „die da oben“ hinweggefegt zu werden, nimmt zu. Das politische System der Bundesrepublik mit seiner föderalen Struktur und der fein austarierten Gewaltenteilung mag weniger anfällig dafür sein als etwa das zentral organisierte französische. Was sich aktuell – Stichwort Chemnitz – auf der äußersten rechten Seite des politischen Spektrums abspielt, gibt dennoch Anlass zur Sorge. Schließlich agiert hier eine „völkische Sammlungsbewegung“, von der Experten sprechen, Hand in Hand mit ihrem parlamentarischen Arm, der AfD.

Das linke Projekt „Aufstehen“ mag eine Gegenkraft bilden. Die wirklich notwendige Sammlungsbewegung – dieser Eindruck drängt sich zunehmend auf – könnte aber die der Demokraten und Verteidiger der Verfassung werden. In manchen westlichen Ländern wie den USA, Polen oder Ungarn wäre es schon längst Zeit dafür.