Titelverteidiger Magnus Carlsen wirkt müde – bereut er im Tiebreak, nicht aggressiver gespielt zu haben?

London - Ex-Weltmeister Vladimir Kramnik blieb buchstäblich das Wort im Halse stecken. Am Montag war er live zugeschaltet, als der St.Louis-Chess-Club über die zwölfte Partie der Schachweltmeisterschaft in London berichtete. Im Studio herrschte gedrückte Stimmung. US-Boy Fabiano Caruana war in Zeitnot geraten und hatte in noch nicht verlorener, aber ziemlich heikler Stellung noch acht präzise Züge zu finden, um wenigstens ein Unentschieden zu sichern. Es wäre das zwölfte im zwölften Spiel und die Entscheidung um die Schachkrone müsste im Tiebreak mit Schnellpartien fallen. Aber es sah eher nach einem Sieg des Titelverteidigers Magnus Carlsen aus.

 

Carlsen nutzt klaren Vorteil nicht

Wie bedrohlich die Lage für den Herausforderer war, beschrieb Kramniks Stellungsbewertung: „Er muss seine Dame irgendwie auf das Feld d3 bringen – und beten. Auch wenn er nicht gläubig ist. So wie es aussieht, muss er jede denkbare Ressource nutzen.“ Himmlische Gnade brauchte der Amerikaner dann doch nicht. Die wurde ihm von seinem Gegner gewährt. Carlsen, der in der Schachwelt bekannt dafür ist, noch die ausgetrocknetste Stellung so lange auszupressen, bis er auf Wasser stößt, bot remis an – in aussichtsreicher Stellung, bei keinerlei eigenem Risiko und in Zeitnot des Gegners.

Großmeister zeigt sich schockiert über den Weltmeister

Kramnik wusste gar nicht, wohin mit seinen Gefühlen. Er verurteilte Carlsens Vorgehen als „unverständlich, unfassbar, unbeschreiblich“. Er stand nicht allein. Schach-Ruheständler Garri Kasparow, vermutlich der beste Schachspieler bis heute, nannte das Friedensangebot in überlegener Stellung „schockierend“. Im Lichte dieser Ereignisse müsse er seine Einschätzung ändern, dass Carlsen der hohe Favorit im Tiebreak (Beginn 16 Uhr) sei. „Ein Tiebreak erfordert unglaublich gute Nerven und Carlsen scheint sie zu verlieren“, twitterte er.

Lesen Sie hier, warum Menschen Computer im Schach nicht mehr besiegen können!

Hat der amtierende Weltmeister also seinen Biss verloren und rettet sich waidwund und erschöpft in die Verlängerung? Oder hat der Norweger nur eine kreuzvernünftige und sehr ökonomische Entscheidung getroffen? Darüber diskutiert die Schachwelt. Auf dem Papier ist Carlsens Leistungsverweigerung in Partie zwölf eine rationale Strategie. Der Tiebreak besteht zunächst aus vier Schnellschach-Partien, in denen beiden Kontrahenten nur 25 Minuten Bedenkzeit für die gesamte Partie zur Verfügung steht. Pro Zug gibt es aber eine Gutschrift von 10 Sekunden. In diesem Format des sogenannten „Rapid-Chess“ ist Carlsen die unangefochtene Nummer eins der Weltrangliste, Caruana aber, der beim klassischen Schach auf Augenhöhe mit dem Champ agiert und mit hauchdünnem Rückstand Nummer zwei der Weltrangliste ist, liegt in dieser schnellen Disziplin nur an Nummer zehn.

Entscheidet das Blitzschach?

Steht es nach den vier Partien noch immer unentschieden, wird es noch schneller. Dann wird Blitzschach gespielt – mit je fünf Minuten Bedenkzeit für die gesamte Partie. Auch hier ist der Norweger Weltranglisten-Erster. Caruana liegt in dieser Wertung gar nur auf dem 18. Platz. Gespielt wird ein Match aus zwei Partien. Geht es unentschieden aus, gibt es ein neues Match aus zwei Partien. Insgesamt können bis zu fünf solcher Mini-Matches gespielt werden.

Für den denkbar unwahrscheinlichen Fall, dass selbst dann noch kein Sieger feststeht, käme es zum ultimativen Showdown: die Armageddon-Partie. Dabei hat Weiß fünf Minuten Bedenkzeit, Schwarz eine Minute weniger. Dafür muss Weiß die Partie gewinnen. Bei einem Unentschieden gilt der Spieler mit den schwarze Figuren als Sieger.

Weltmeister wirkt erschöpft

Vor dem Beginn des Londoner Zweikampfs hätte man es also als vernünftigen Match-Plan ansehen können, dass Carlsen auf den Tiebreak setzt. Nach dem Eindruck der zwölf Partien wachsen Zweifel. Carlsen wirkt erschöpft und einfallsloser als sein Gegner. Auf der Pressekonferenz nach der Partie wird er damit konfrontiert, was er dazu sagt, dass die Computer seine Stellung zwischenzeitlich mit „plus 2“ bewerteten, was eine glatte Gewinnstellung gleichkommt. „Es interessiert mich nicht“, sagt er dazu. Es sei nicht eine Absicht gewesen, die Partie aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ein Magnus Carlsen in Bestform hätte das so nie gesagt.