Der evangelische Pfarrer Rüdiger Schard-Joha muss mit seiner Familie aus dem Pfarrhaus in Marbach ausziehen: Blei setzte den Bewohnern zu.

In einen Stall hat es Rüdiger Schard-Joha nicht verschlagen– wie Maria und Josef vor mehr als 2000 Jahren. Aufbrechen musste der Marbacher Pfarrer trotzdem, wenn auch nicht nach Bethlehem. Wenige Wochen vor Weihnachten zog der Seelsorger mit seiner Frau und seinen beiden drei- und siebenjährigen Kindern aus dem evangelischen Pfarrhaus in der Altstadt aus. Bleihaltige Farbe in den Wänden hatte der Familie gesundheitlich zugesetzt. Jetzt wohnt sie in einem Haus, das die Kirchengemeinde für sie angemietet hat.

 

Der Jüngste musste ständig zum Kinderärztin

Warum muss der Jüngste ständig zur Kinderärztin? Diese Frage stellten sich Rüdiger Schard-Joha und seine Frau Daniela monatelang. Auch sie selbst fühlten sich öfter müde und fanden keine Erklärung dafür. „Per Zufall lasen wir einen Artikel über die Gefährdung von Kindern durch bleihaltige Anstriche in Altbauten.“ Schard-Joha ging der Spur nach. Zwar sind Bleifarben heutzutage weitgehen verboten, doch das Pfarrhaus in der Strohgasse stammt aus dem Jahr 1700. Auf eigene Kosten ließ der Pfarrer ein Gutachten erstellen. Aus der Vermutung wurde Gewissheit: An vielen Stellen waren Bleifarben immer wieder mit neuen Farben übermalt worden. Das Problem: „Die Farbe arbeitet am Holz und platzt mit der Zeit ab.“ Für Kinder, die Bruchstücke in die Hand und ihre Finger in den Mund nehmen, eine Gefahrenquelle. Aber auch Erwachsene reagieren auf das chemische Wohngift.

Die zutiefst beunruhigte Familie hielt sich zunächst möglichst oft bei der Oma in Stuttgart auf. „Gerade in den Kinderzimmern lagen immer wieder alte Farbteile in Reichweite – Kinder spielen auf dem Boden und nehmen das Blei damit in höherer Konzentration auf“, erklärt Rüdiger Schard-Joha. Die Kinder durften nur noch in bestimmten Bereichen auf dem Boden spielen und mussten häufig die Hände waschen. „Wir standen unter ständiger Anspannung, um ja keine Farbstückchen in der Nähe von ihnen zu übersehen und die Teile rechtzeitig weg zu saugen.“ Der Pfarrer spricht von einer großen Belastung, die sehr erschöpft habe. Er ist froh, dass er Kontakt mit der Vergiftungs-Informationszentrale (VIZ) Freiburg aufnahm, die ihm zum Auszug riet. Inzwischen habe der Gutachter den genauen Bleigehalt in der Wohnung ermittelt.

Blei lagert sich in Knochen ein und wirkt deshalb über Jahrzehnte

Tatsächlich reagieren Kinder sehr viel empfindlicher auf Blei als Erwachsene. Das bestätigt Uwe Stedtler, stellvertretender Leiter der VIZ an der Uni Freiburg. „Entwicklungsschäden können schon bei Bleibelastungen auftreten, die keine spürbaren Beschwerden verursachen.“ Dazu zählten Schmerzen, Lähmungen oder Blutbildveränderungen. Das Blei schädige langfristig, weil es in den Knochen eingelagert und über Jahrzehnte langsam ans Blut abgegeben wird. Oft beeinträchtige es die Gehirnentwicklung von Kindern. Solche Schäden könne man nicht wieder rückgängig machen.

In welchem Maß das denkmalgeschützte Pfarrhaus saniert wird, muss das Amt für Vermögen und Bau in Ludwigsburg entscheiden. „Es hat zunächst zurückhaltend reagiert“, berichtet Rüdiger Schard-Joha. Der nächste Schritt sei ein umweltmedizinisches Gutachten.

Das zuständige Amt will erst die Ursachen klären

Das Amt für Vermögen und Bau sieht noch Klärungsbedarf. Schäden an den Anstrichen seien weder 2014 beim Einzug des Pfarrers noch zwei Jahre später beim Sichten einer defekten Heizung protokolliert worden, teilt Raffael Sänger, stellvertretender Leiter des Amtes, mit. „Grundsätzlich gehen wir – der Expertise der Fachleute folgend – davon aus, dass die Wohnung bei sachgemäßem Gebrauch ohne gesundheitliche Beeinträchtigung bewohnt werden kann.“ Deshalb werde jetzt geklärt, wie die Schäden entstanden sind und wie hoch die Belastung ist.

Bisher gab es offenbar keinen Anlass, die Farbanstriche zu untersuchen

Baurechtlich gebe es keine Verpflichtung, die Anstriche zu entfernen. sagt Sänger. Eine Gefährdung trete grundsätzlich erst beim Abschleifen auf. Deshalb würden Schadstoff-Untersuchungen in der Regel erst im Zuge von umfangreichen Malerarbeiten an möglicherweise betroffenen Bauteilen eingeleitet. Dies sei beim Pfarrhaus in Marbach nicht der Fall gewesen, sodass es bis zuletzt auch keinen Anlass gegeben habe, die Farbanstriche näher zu untersuchen.

Am Ende müssen sich Kirche und das Land über die Kosten einer Sanierung unterhalten. Zuständig für den Unterhalt ist das Land. Das ist geschichtlich bedingt: Es gibt landesweit 360 sogenannte Staatspfarrhäuser. Sie entstanden nach der sogenannten Säkularisation durch Napoleon in den Jahren 1806/7. Der Kirche blieb das Wohnrecht, und im Jahr 1865 verpflichtete sich das Land, die Baupflichten zu übernehmen. Das Amt für Vermögen und Bau in Ludwigsburg betreut rund 100 solcher Pfarrhäuser, davon stehen 22 im Landkreis Ludwigsburg.

Wie äußert sich eine Bleivergiftung?

Fälle
Die Vergiftungs-Informationszentrale (VIZ) der Uni Freiburg berichtet von 33 bis 35 gemeldeten Fällen in den Jahren 2019 bis 2021 in Baden-Württemberg. Am häufigsten komme eine Vergiftung im Haushalt vor: bei Bleigießen, dem Umgang mit Gardinengewichten, dem Übergang von Blei aus Gebrauchsgegenständen oder im Trinkwasser durch Bleirohre oder beim Abschleifen alter Farbe. Alte Bleifarben wie im Marbacher Pfarrhaus seien selten der Grund für Meldungen, da sie nur noch in denkmalgeschützten Häusern vorkämen.

Symptome
Werde Blei nur in einem kurzen Zeitraum aufgenommen, sind laut VIZ unter anderem ein metallischer Geschmack, Übelkeit, Erbrechen und Bauchschmerzen symptomatisch. Zu chronischen Beschwerden zählten Reizbarkeit, Ruhelosigkeit, Müdigkeit, Schwäche und Appetitlosigkeit, auch Übelkeit und Verstopfung – bei Kindern Störung der Hirnentwicklung. In schweren Fällen treten Darmkoliken, Muskelschmerzen und Schlaflosigkeit sowie Nervosität, Zittern und Lähmung auf, mitunter auch Verwirrungszustände und Krämpfe bis zu Nierenschäden und Gelbsucht.