Im Kampf gegen die Kirschessigfliege setzen immer mehr Wengerter auf das als Mittel gegen Sodbrennen und Porzellan-Rohstoff bekannte Kaolin. Der weiße Belag auf Blättern und Beeren irritiert: Manch Spaziergänger spricht von „verschimmelten Trauben“.

Rems-Murr: Sascha Schmierer (sas)

Fellbach - Prachtvoll hängen die Trauben an den Hängen des Kappelbergs, mit ihren fast makellosen Beeren stehen die Rebzeilen in Lämmler und Goldberg aktuell wie ein Beispiel aus dem Weinbau-Lehrbuch. Der Grund: Die unter den Erzeugern gefürchtete Pilzkrankheit Peronospora, in feuchtwarmen Früh-sommern als die mit Abstand schlimmste Geißel des Weinbaus bekannt, hat durch die trockene Hitze in den vergangenen Monaten beim Jahrgang 2020 kaum eine Rolle gespielt. Anders als stellenweise im Unterland war im Remstal auch der Mehltau kein wirkliches Thema. Statt sich durch halb verfaulte Trauben matschen zu müssen, dürfen sich die Erntehelfer heuer deshalb auf kerngesundes Lesegut freuen – schnipp-schnapp werden Vorzeigetrauben im Plastikeimer landen.

 

Mit Insektengift hat der weiße Belag nichts zu tun

Obwohl sich die Weinberge aktuell einer bemerkenswert guten Gesundheit erfreuen, ist Thomas Seibold als Vorstandschef der Fellbacher Weingärtner bereits mehrfach auf ein vermeintliches Krankheitsbild in den Rebzeilen angesprochen worden. „Sind denn bei Euch die Trauben verschimmelt?“, habe erst jüngst ein Bekannter besorgt gefragt. Gemeint ist mit der Beobachtung ein weißer Belag auf Blättern und Beeren, der sich zwar längst nicht über den gesamten Kappelberg zieht, aber in immer mehr Rebzeilen zu finden ist. Unwissende Spaziergänger haben beim Anblick des gesprenkelten Überzugs schon an einen Spritzmittel-Unfall gedacht, arglose Fahrradfahrer an einen veritablen Mehltau-Befall.

Doch mit Insektengift hat der weiße Belag ebenso wenig zu tun wie mit einer mysteriösen Blattkrankheit oder gar mit in die Traubenzone gespritztem Kalk. In Wirklichkeit handelt es sich um das Gesteinsmehl Kaolin. Mit Wasser angerührt und per Spritzdüse in den Rebzeilen ausgebracht soll es als ökologische Variante zur Bekämpfung der Kirschessigfliege dienen. Die gilt im Weinbau als Sorgenkind, weil sie bei massivem Befall auch den besten Jahrgang noch kurz vor der Ernte vernichten kann. Im Gegensatz zur normalen Fruchtfliege, die sich nur an bereits beschädigten Beeren gütlich tut, verfügt die Abart mit dem lateinischen Namen Drosophila suzukii über einen Legestachel mit Sägeapparat. Damit kann das Insekt für die Eiablage die Beerenhaut durchdringen – und im Obstbau wie im Weinberg verheerende Schäden anrichten.

Bei Trauben gelangen durch die Einbohrstelle leicht Schadpilze in die Beere

Als die „Fliege mit der Säge“ vor knapp einem Jahrzehnt durch importierte Früchte im Südwesten ankam, war die Aufregung deshalb groß. Statt wie die heimischen Essigfliegen nur faulende Beeren für die Eiablage zu nutzen, ritzt der Schädling auch gesunde Beeren an, die kurz vor der Erntereife stehen – und wegen der fälligen Wartezeit nach einer Behandlung mit Pflanzenschutzmitteln auch nicht gespritzt werden können. Fast noch schlimmer als die vom Fruchtfleisch lebenden Larven der Kirschessigfliegen sind die Folgeschäden. Bei Trauben gelangen durch die Einbohrstelle leicht Schadpilze in die Beere, mit Drosophila kommt oft auch die Botrytis. Und der austretende Saft lockt wiederum auch Schädlinge wie die heimische Essigfliege an, die als Verursacherin von Essigfäule hohe Qualitätseinbußen auslösen kann.

Deshalb wird seit dem ersten Auftreten von Drosophila suzukii nach einem Weg gesucht, wie dem Schädling beizukommen ist. Fündig geworden sind die Forscher beim Kaolin, einem Material, das mit Feldspat und Quarz auch das Grundrezept für die Porzellanherstellung bildet und unter dem Begriff „Weiße Tonerde“ im Gesundheitsbereich etwa als Mittel gegen Sodbrennen vermarktet wird. Im Weinberg auf die Beeren gespritzt soll es die Kirschessigfliege vergrämen – auch wenn bisher niemand wirklich sagen kann, wie das genau funktioniert. „Bisher ist nicht bekannt, ob die Oberfläche der Beere durch das Kaolin für die Fliege unattraktiv wird oder der Schädling die Traube nicht mehr als blau wahrnimmt“, sagt Thomas Seibold. Untersucht ist bereits, dass etwa Blattläuse offenbar mit der Kaolin-Schicht nicht zurechtkommen und buchstäblich vom Blatt fallen. Eine These ist, dass die mikroskopisch kleinen Partikel am Insekt haften bleiben und einen Putzreflex auslösen, der den Fliegen weniger Zeit für die Fortpflanzung lässt.

Immer mehr Wengerter setzen auf Kaolin

Schädlich jedenfalls ist das Kaolin weder für Mensch noch für die Tierwelt. Und: Auch den Weingeschmack verändert das ökologische Spritzmittel nicht – im Gegensatz zum Kalk, mit dem im Kampf gegen die Kirschessigfliege auch schon experimentiert wurde. Der wirkt sich auf den PH-Wert im Tank aus – weshalb die ersten Versuche relativ schnell wieder in der Versenkung verschwanden. Beim Kaolin hingegen haben Studien in der Schweiz positive Ergebnisse geliefert – das Mittel scheint zu wirken und kann auch noch kurz vor der Ernte eingesetzt werden, um den Schädling zu vergrämen.

Deshalb setzen immer mehr Wengerter auf Kaolin – was im Weinberg zu den besagten Spuren führt. Das Fellbacher Weingut Aldinger hat selbst dem Lemberger eine vorbeugende Behandlung gegönnt, obwohl die Rebsorte im Gegensatz zu Dornfelder, Acolon und Trollinger gar nicht als besonders gefährdet gilt. Die Fellbacher Weingärtner wiederum klären an den Zugangswegen zum Kappelberg inzwischen mit Hinweiszetteln über den ungiftigen Belag auf den Beeren auf – in der Hoffnung, dass niemand mehr von „verschimmelten Trauben“ spricht.