20 Grad kaltes Wasser, angeschimmelte Duschen – solche Lappalien fechten den Bergianer, den seit Jahrzehnten treuen Besucher des Bad Bergs, nicht an. Das gehört zum Retro-Charme dazu – der im Übrigen sakrosankt ist.

Stuttgart - Die Welt ist aus den Fugen. Nichts und niemand schmort mehr an dem Platz, der ihm einst zugewiesen wurde, gerade im sauberen Bad Berg. „Die Schwuchtla liaget aber fei da drumma“, sprach einst eine Dame zu einem Herrn, der seine Augen wie Suchscheinwerfer über die Liegewiesen gleiten ließ. Als Anfänger war er mit der geheimen, nur Eingeweihten bekannten Ordnung der Anstalt noch nicht vertraut. Wo hübsche Frauen neben hübschen Männern lagen, war die Single-Wiese. Wo sich vierschrötig pomadige Burschen mit offensiv geschminkten Diven schmückten, die Rotlichtwiese. Wo alles so normal war wie anderswo auch, die Familienwiese. Und wo sich durchtrainierte Knaben pärchenweise auf dem Handtuch räkelten, da musste unser Novize hin. Das war sein Platz in der Sonne und in der Welt des Mineralbads Berg.

 

Tempi passati! Wer sich heute auf die obere Terrasse setzt, um zur Butterbrezel einen Kaffee zu trinken, sieht das Bad wie eine unsortierte Bühne unter sich liegen. In der Mitte das Wasserbecken, flankiert von Liegestühlen und Holzliegen, die von den besagten Wiesen umringt werden. Und darauf: ein großes buntes Durcheinander der Leiber, Geschlechter und sexuellen Orientierungen, ein sommerlich friedlicher Toleranzgipfel, der das Berg auf wunderbare Weise zum Spiegel unserer libertären Gesellschaft macht. Aber hoffentlich spricht sich das nicht bis zum Pietcong rum. Sollte das Geschrei gegen die „Ehe für alle“ auf die Gender-Bad-Idylle übergreifen, wäre es mit der Ruhe vorbei.

Kaum etwas stört die klösterliche Kontemplation

Denn das ist in diesem Erdenparadies ja geblieben, trotz aller Revolutionen in der Liebesordnung: Ruhe, Stille, Entspannung. Nur kein Stress, bitte! Hier werden große Bücher gelesen und geschrieben, hier heißt die Dusche noch „Brause“ und das Kraulen, bis vor wenigen Jahren ohnehin untersagt, fein englisch „Crawlen“. Anders als die lässige Moral stammt die biedere Sprache aus den Fünfziger Jahren, als das im Krieg zerstörte Bad wieder aufgebaut wurde – in einem blauweißen Design, das bis heute überlebt hat und als „voll retro“ bei jüngeren Gästen für Entzückensschreie sorgt. Sonst aber stört nichts die klösterliche Kontemplation, die sich unter Kastanien- und Gingkobäumen selbst dann breit macht, wenn bei tropischen Temperaturen japanische Verhältnisse im Wasser herrschen. Wie auf einer überfluteten Partymeile stehen die Leute dann dicht gedrängt im Becken, plaudernd und einen Schluck aus der nach Rostbrühe schmeckenden Quelle nehmend, die in der Mitte aus der Erde sprudelt. An Schwimmen ist da nicht zu denken, wobei: Bahnenschwimmen im Berg? Nein, dafür ist die Kuranstalt eigentlich nicht gedacht.

Allein das Becken. Quadratisch! Eine in Stein gehauene, mit schwebenden Eisenrostflocken verfeinerte Ritter-Sport-Schokolade! Das Gleichmaß wirkt derart beruhigend, dass es jeden sportlichen Ehrgeiz abtötet. Hier crawlt man nicht durchs Wasser, hier schwimmt man höchstens Brust. Wem auch das zu viel ist, vermeidet das Schwimmen ganz und verlegt sich aufs Spazieren durchs Wasser, das im übrigen sehr kühl ist. Um die zwanzig Grad haben die das Außenbecken speisenden Quellen – und wenn sich zu den Entzückensschreien wegen Retro noch andere, spitzere Rufe gesellen, gelten sie in aller Regel dem unerwartet erfrischenden Nass. Huch! Oh! Arschkalt: ein Novize unterzieht sich mit seinem ganzen Mut dem Aufnahmeritual.

Kinder gibt es im Bad Berg nicht

Eingefleischte Bergianer kennen das. Kreischendes Neulingstheater ist ihnen kaum einen Blick wert, schließlich haben sie hier Jahrzehnte ihres Leben verbracht und einiges an Menschen und Moden erlebt. Da wird man cool. Gelassen folgen sie dem Lauf der Zeit, die hier bedächtiger verstreicht als anderswo. Bademützen hat man erst Ende der neunziger Jahre abgeschafft, ein Frevel an der Tradition, dem – so hoffen die Bergianer – keine weiteren folgen werden. Ab Herbst 2016 wird das entschleunigte Bad saniert. Duschen und Toiletten sind zwar angeschimmelt, das geben die Stammgäste zu; dass der Vintage- Charme der Anlage aber erhalten werden muss, steht ebenso fest. Und wehe, das Bad fällt einem stillosen Modernisierungswahn zum Opfer! Dann setzt es Montagsdemos in Bikini-Rüstungen, die sich gewaschen haben.

Kinder würden nicht mitmarschieren. Kinder gibt es im Berg nicht, weil sie dem streng riechenden Kaltwasser-Biotop nicht standhalten würden, dafür aber den vollen Eintrittspreis zahlen müssten. 8,10 Euro – eine natürliche Selektion, die dafür sorgt, dass erwachsene Männer und Frauen in der Anstalt unter sich bleiben. Kein lärmendes Pubertätsgetobe, auch keine fetten Pommes mit Ketchup im Café, dafür aber Kartoffeln mit Quark samt Logenplatz im großen Berg-Welt-Theater, das Abend für Abend um acht schließt. „Auf Wiedersehen, auf Wiedersehen . . .“, singt Rudi Schuricke dann scheppernd aus den Lautsprechern. Aber ja doch, versprochen, was sonst?