Zum Saisonauftakt zeigt das Schauspiel Stuttgart im Nord Jan Gehlers Inszenierung von Wolfgang Herrndorfs Jugendroman „Bilder deiner großen Liebe“ – doch bei Lea Ruckpauls erstem Auftritt in Stuttgart springt kein Funke über die Rampe.

Stuttgart - Unterschiedlicher könnten die beiden Abende, mit denen das Schauspiel Stuttgart die Spielzeit eröffnet, kaum sein: Hier, im Kammertheater, das schrille Spektakel, dort, im Nord, die extreme Reduktion, hier die Feier der amerikanischen Beat- und Popkultur, die sich von der Ästhetik her an ein jüngeres, vom Anspielungshorizont her aber an ein älteres Publikum wendet, als bei der Premiere tatsächlich im Zuschauerraum saß; dort eine sehr deutsche Ernsthaftigkeit, hier das Primat der Sinnlichkeit, dort der Vorrang des gesprochenen Wortes. Nach dem musikalischen Ensemblestück „Chelsea Hotel“ also die weitgehend solistischen „Bilder deiner großen Liebe“.

 

Die Bühnenbearbeitung von Wolfgang Herrndorfs als Jugendroman firmierendem Bestsellers „Tschick“ war das in Deutschland meistgespielte Stück der Saison 2012/2013. Auch zurzeit steht es in vielen Städten auf den Spielplänen, hinzu kam die bejubelte Verfilmung von Fatih Akin. Jetzt zeigt das Schauspiel Stuttgart im Nord die nach dem frühen Tod des Autors unvollendet gebliebene Fortsetzung „Bilder deiner großen Liebe“ in einer Halbübernahme aus Dresden.

Die „Dramatisierung“ besorgte Robert Koall, der schon „Tschick“ für die Bühne eingerichtet hat. „Dramatisierung“ indes ist der falsche Begriff. Koall hat mit immensem Respekt vor der Sprache des Autors nicht viel mehr gemacht als eine Strichfassung des Romans. Der ist in der Ich-Form und im Präsens geschrieben und lässt sich unmittelbar als Monolog sprechen. Auch die Dialoge zwischen der Erzählerin Isa und den auf der Bühne zu einem einzigen Mann verschmolzenen Gesprächspartnern sind im Roman bereits ausformuliert. Sie konnten für die Bühne eins zu eins übernommen werden.

Sie beherrscht ihr Handwerk, doch die Faszination bleibt aus.

Das – als gemäßigter Ersatz für das amerikanische „fuck“? – neuerdings inflationär gebrauchte „Ej“, das bei Herrndorf nicht vorkommt, hat die Darstellerin wohl aus jugendlichem Übermut hinzugefügt. Regie führte Jan Gehler, der mit der Dresdner Uraufführung von „Tschick“ die Erfolgsserie eingeleitet hat. Aus Dresden kommt auch Lea Ruckpaul in der Frauenrolle des Zweipersonenstücks. Nur ihr Gegenüber wurde mit Wolfgang Michalek umbesetzt.

Hausherr Armin Petras hat die Schauspielerin, die sich mit dieser Inszenierung als neues Mitglied des Stuttgarter Ensembles vorstellt, schon im Voraus in höchsten Tönen gelobt. In gleicher Weise hat er allerdings etwa über Maja Beckmann oder über Katharina Knap gesprochen, die immerhin für Stuttgart ein Angebot des Burgtheaters ausgeschlagen hatte. Jetzt geht, nach Beckmann, auch Knap, und niemand verrät ihre Gründe. Verlassen wir uns also auf unsere eigenen Eindrücke.

Da wäre zunächst die bewundernswerte Gedächtnisleistung. Nur ein Hänger bei fast zwei Stunden pausenloser Bühnenpräsenz – das ist schon was. Aber Lea Ruckpaul ist zwar nicht so jung, wie sie aussieht, mit ihren 29 Jahren jedoch immer noch jung. Da merkt man sich auch lange Texte. Diese Schauspielerin beherrscht ihr Handwerk. Die Faszination jedoch bleibt aus. Die kindliche Körpersprache mag der Rolle der nach eigener Einschätzung zwar nicht bescheuerten, aber verrückten, bereits aus „Tschick“ vertrauten vierzehnjährigen Romanheldin Isa entsprechen. Aber Lea Ruckpaul spielt sie auf fast altmodische Weise ungebrochen, Gestik und Mimik laufen synchron zum Rhythmus der in hohem Tempo rezitierten Sprache ab. Wenn sie sagt „ich erwidere den Blick“, dann illustriert sie diesen Satz extensiv.

In der Stille wird deutlich, dass der Inszenierung mehr solche Pausen gut bekommen hätten.

Es springt kein Funke über die Rampe, es mangelt an der Magie, für die es der Irritationen, der Einrisse an der glatten Oberfläche bedürfte, über die Maja Beckmann als das Mädchen aus der Streichholzfabrik oder Katharina Knap als Sonja in „Onkel Wanja“ verfügten. Dieser Stil gleicht einer „Sad eyed Lady of the Lowlands“ ohne Bob Dylans Krächzstimme (aber pardon, das war am Abend davor im Chelsea Hotel).

Einmal – der Mann, der an dieser Stelle Max Hiller heißt, hat Isa den verletzten Fuß bandagiert – verstummt die junge Frau. Und in der Stille wird deutlich, dass der Inszenierung mehr solche Pausen gut bekommen hätten. Sie hätten den Sprechfluss, der auch einher geht mit inhaltlichem Leerlauf, auf wohltuende Weise unterbrochen und strukturiert.

Für die Schauspielkunst erweist sich an diesem Abend – wir müssen es, uncharmant, um der Wahrheit willen vermelden – Wolfgang Michalek als zuständig. Er ist nicht nur auf keineswegs oberflächliche Weise komisch, sondern genau in allen Details, in der Bewegung der Arme und Hände, im Ausdruck des Gesichts, in den Zwischentönen des Sprechens. Er drängt sich nicht in den Vordergrund, aber er zieht, an den Reaktionen erkennbar, die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich.

Man kann in Isa einen weiblichen Huckleberry Finn des 21. Jahrhunderts sehen.

Isa betritt die von links nach rechts ansteigende kahle Spielfläche vor einer von hinten angeleuchteten Leinwand (Bühne: Sabrina Rox) von unten her, durch eine Falltür, die später als Luke zu einem imaginären Schiff dient, barfuß und im blauen T-Shirt, mit eng anliegender schwarzer Dreiviertelhose und umgebundenem grünem Blouson, dessen Ärmel vorübergehend zu einem taubstummen Knaben namens Olaf oder Heinrich wird (Kostüme: Cornelia Kahlert). Sie spricht vorwiegend zum Publikum, nur en passant zu dem Mann, der zu Beginn mit angezogenen Knien schweigend rechts an der Wand hockt, mit weißer Staude, schwarzen Jeans und weißen Hosenträgern.

Isas Erzählung reiht ebenso skurrile wie im Grunde belanglose Ereignisse und Abenteuer an einander. Man kann, wenn man denn will, in der Figur einen weiblichen Huckleberry Finn des 21. Jahrhunderts sehen. Gegen Ende sagt sie: „Das Glück macht nie so glücklich wie das Unglück unglücklich.“ Das erinnert an den berühmten ersten Satz von Tolstojs „Anna Karenina“: „Alle glücklichen Familien gleichen einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich.“ Es könnte als Motto über „Bilder deiner großen Liebe“ stehen. Und sonst?

Nach Max Hillers Geschichte von einem Bankraub und den Folgen fragt Isa: „War‘s das?“ Und der Mann antwortet: „Das war‘s.“

War‘s das? Das war‘s.