Heiner Geißler bleibt sich auch in der letzten Schlichtungsrunde treu. Er ist der Chef, gibt sich volksnah und sagt klar seine Meinung.

Stuttgart - Im nachtschwarzen Morgen leuchten orangerote Punkte am Bauzaun auf. Die Umrisse einiger Menschen sind in der Dunkelheit des Schlossgartens sichtbar. Raucher stehen in kleinen Gruppen zusammen, aus Kaffeebechern steigt Dampf empor. Über dem Schlossgarten steht die schmale Sichel des Mondes. Petra Prause hat dafür keinen Blick. Sie ist kurz nach fünf Uhr aufgestanden und von Sillenbuch aus mit der Stadtbahn in die Innenstadt gefahren, um am "Blockiererfrühstück" der Parkschützer teilzunehmen. Kurz vor halb sechs drängen sich einige Dutzend Menschen um einen Klapptisch, auf dem in einer Schale Plätzchen liegen. Der Protest stärkt sich mit Hefezopf, Lebkuchen, Kaffee und Tee. Der Tisch steht neben einem Schild, das den Verkehr regelt: "Baustellenfahrzeuge frei".

Dichte Atemwolken verraten, wo die Menschen miteinander reden. "Der Schlichterspruch wird für die Pro-Seite ausfallen", glaubt Petra Prause, "wir wollen heute Morgen zeigen, dass wir noch da sind, egal, wie das heute ausgeht." Die Gegner des geplanten Tiefbahnhofs diskutieren über den Baustopp, über die bevorstehenden Empfehlungen von Heiner Geißler und darüber, wie sie nachher rechtzeitig zur Arbeit kommen. Wenige Meter trennen die Grüppchen von den drei Männern eines Sicherheitsdienstes, deren Neonwesten grell leuchten. Sie stehen auf dem Baugelände der Bahn.

Der Mann, der das Tauwetter brachte


Langsam erwacht nebenan im Bahnhof das Leben. Am Dienstag sollen im Rathaus die Weichen gestellt werden für seine Zukunft. Es ist der 30. November - genau zwei Monate sind vergangen seit jenem Polizeieinsatz im Mittleren Schlossgarten, an dessen Rand die Parkschützer nun stehen. "Was am 30. September geschehen ist, bleibt in mir haften", sagt Petra Prause, "das bekomme ich nicht mehr los." An jenem "schwarzen Donnerstag" hat die Stadt ihre Unbeschwertheit verloren. Am Bauzaun hängt ein Kranz mit Schleife. Darauf wird der Tod des Rechtsstaats betrauert. Als Wasserwerfer, Pfefferspray und Knüppel gegen Demonstranten eingesetzt wurden, verloren die wohlmeinenden Menschen ihre Sprache. Befürworter und Gegner beschimpften sich als "Lügenpack" und "Berufsdemonstranten". Seitdem hat Tauwetter eingesetzt. Der Mann, der Glasnost gebracht hat, knackte den Eispanzer mit Humor, Bibelzitaten und Beharrlichkeit.

Keiner weiß, wie lange sich die Stadt an der Schlichtung von Heiner Geißler wird wärmen können. Das Rathaus hat seine Sicherheitskontrollen verschärft - und lässt die Gegner von Stuttgart 21 dennoch durch den Haupteingang hinein. Kurz vor dem Beginn der Schlichtung bilden rund 50 Demonstranten einen Halbkreis um jenen Aufzug, den fast alle Sitzungsteilnehmer benutzen. Sie recken den Teilnehmern der Gespräche Plakate und Transparente entgegen: "Bürgerbegehren statt Lobbyismuswahn", steht auf einem. Ihr Schlachtruf hallt durch alle Stockwerke des Rathauses: "Oben bleiben!" Wolfgang Schuster hört ihn, als er über eine Seitentreppe in den vierten Stock läuft.

Dort bauen die Kameraleute ihre Stative auf. Aufnahmeleiter und Sprecher versuchen, nicht über eines der vielen Kabel zu stolpern. Mehr als 150 Journalisten haben sich für das Finale der Schlichtung akkreditiert. Wer über die Redepulte hinwegblickt, sieht eine Stadt, deren Wahrzeichen von einer Schneehaube überzogen sind - Stuttgart als Adventskalenderkulisse. "Können wir uns darauf einigen, dass Stuttgart eine schöne Stadt ist?" hat Heiner Geißler in einer der vorigen Schlichtungsrunden gesagt. Diese Annahme war in den acht Schlichtungsrunden eine der wenigen, die allseits akzeptiert wurde.

Eine symbolträchtige Geste


Die Entscheidung rückt näher. Demonstrativ läuft Oberbürgermeister Wolfgang Schuster an den Reihen der Projektgegner am Runden Tisch vorbei. Er schüttelt allen die Hand, bleibt beim Architekten Peter Conradi und bei Brigitte Dahlbender vom Bund für Umwelt- und Naturschutz stehen und unterhält sich kurz mit ihnen. Eine symbolträchtige Geste. Der Grünen-Fraktionschef Werner Wölfle streut unterdessen seine Sicht der Dinge. "Es täte dieser Stadt extrem gut", sagt Wölfle, "wenn die Bahn sich besinnen würde." Mehrere Stunden vor dem Schlichterspruch arbeiten beide Seiten schon an ihrer Lesart. Sie denken über den 30. November hinaus, wenn Stuttgart seinen Frieden ohne Heiner Geißler weiter pflegen muss.

Das Geräusch von klickenden Kameras begleitet seinen Einzug in jenen Raum, in dem er ein neues Kapitel im Streit um Stuttgart 21 aufgeschlagen hat. Geißler begrüßt Gegner und Befürworter. Er trägt sein dunkelblaues Schlichtersakko, er lächelt verschmitzt. Der Schlichter hat im Laufe dieses achtzigstündigen Sitzungsmarathons manche Konflikte entschärft. Am Dienstag erlebt er seinen schwersten Tag. Das weiß er, aber er lässt es sich nicht anmerken.

Bei den Befürwortern ist die erste Reihe so prominent besetzt wie an keinem anderen Schlichtungstag. Neben Wolfgang Schuster blicken der Bahn-Chef Rüdiger Grube und der Ministerpräsident Stefan Mappus zur Seite der Gegner hinüber. Mappus rückt seine Krawatte zurecht, er sitzt neben seiner Verkehrsministerin Tanja Gönner (beide CDU), sie stecken immer wieder ihre Köpfe zusammen. In der zweiten Reihe sitzt der Wirtschaftsminister Ernst Pfister (FDP). Bei den Gegnern fehlt mit Boris Palmer zunächst einer der wichtigsten Akteure bei den Gesprächen.

Es beginnt mit einem volkstümlichen Prolog


Geißler wäre nicht Geißler, wenn er diese Sitzung nicht mit einem volkstümlichen Prolog eröffnen würde. Betont freundlich begrüßt er den "Bahn-Chef Gruhe - Pardon, Grube", um gleich anschließend mit einer als Kompliment verpackten Stichelei nachzuladen: "Ich finde es gut, dass Sie sich jedenfalls für das Ergebnis der Schlichtung interessieren."

Es folgt eine Einzelkritik am Kundenalltag bei der Deutschen Bahn, die rein gar nichts mit Stuttgart 21 zu tun hat. Der Kaffee in den ICE-Zügen? "Ist von zu verbessernder Qualität." Die Fahrkartenautomaten im Praxistest? "Wenn Sie nach Heilbronn wollen, drücken Sie auf den falschen Knopf und landen in Pforzheim." Die Hotlines? "Man braucht Minuten, bis man erst mal an die richtige Stelle kommt." Mit unergründlichem Gesichtsausdruck hört sich der Bahn-Chef diese Klagen an. Auch für den Stuttgarter Oberbürgermeister, der die Schlichtungsgespräche selten beehrt hat, hält Schlichter Geißler noch einen süßsauren Willkommensgruß bereit: "Ich freue mich, dass Sie hier sind und nicht in Mexiko."

Als die Vertreter der beiden Seiten ihre Schlussplädoyers halten, überwiegen die versöhnlichen Töne. Der Bahn-Manager Volker Kefer nimmt das Wort "Demut" in den Mund, als er davon spricht, was er persönlich aus der Schlichtung gelernt hat. "Wir wollen ein offenes Rathaus sein", sagt Wolfgang Schuster, "die Gespräche haben gezeigt, dass es kein Schwarz-Weiß gibt." Die Verkehrsministerin Tanja Gönner beschwört den "Geist der Schlichtung". Der Ministerpräsident Stefan Mappus spricht von einem "Gesprächsfaden zwischen Gegnern und Befürwortern". Das Wort des Tages lautet "gemeinsam". Die Botschaft der Befürworter heißt "weitermachen". Für die Gegner sagt der Grünen-Fraktionschef Werner Wölfle: "Es kann kein Weiterbauen wie bisher geplant geben. Nehmen Sie sich Zeit für die nötige Besinnung!"

"Ich möchte Ihnen jetzt mein Votum bekanntgeben"


Vor dem Schlichterspruch besinnt sich die Runde tatsächlich. Geißler verhandelt mit beiden Seiten hinter verschlossenen Türen. Es soll schnell gehen, es dauert lang. Häppchenweise sickern Informationen per SMS heraus. Die Gegner seien tief enttäuscht, heißt es. Rüdiger Grube und Volker Kefer rechneten noch wegen möglicher Nachbesserungen, lauten die Signale kurz darauf. Um 16.40 Uhr füllt sich der Sitzungssaal wieder. Nur Geißler fehlt. Werner Wölfle zückt eine Digitalkamera und fotografiert die überfüllte Pressebank: "Das werden wir hier nie mehr erleben."

"Ich möchte Ihnen jetzt mein Votum bekanntgeben", sagt Geißler kurz vor 17 Uhr, während Posaunenklänge vom Weihnachtsmarkt heraufklingen. Alles schweigt, einer spricht. "Am 30. September 2010 eskalierte der Protest", sagt er mahnend. "Es kommt für mich nicht infrage, am Ende alles offenzulassen", stellt er klar. Er räumt Bedenken ein gegen S 21, "dennoch halte ich die Entscheidung, Stuttgart 21 fortzuführen, für richtig. Die rechtliche Situation erscheint mir eindeutig."

Im Sitzungssaal suchen sich Augenpaare, man verständigt sich stillschweigend. Geißler spricht von wichtigen und berechtigten Kritikpunkten der Gegner. Am Konzept des Tiefbahnhofs sollten umfassende Verbesserungen vorgenommen werden. Er formuliert einen Begriff, der in den nächsten Tagen die Schlagzeilen mitbestimmen wird: "Stuttgart 21 plus". Die Nachricht verbreitet sich blitzschnell: "Mappus weg!" skandieren die Demonstranten auf dem Weihnachtsmarkt.

Wenige Minuten nach dem Spruch des Schlichters stehen aufgebrachte Bürger im dritten Stock des Rathauses. Ein Mann brüllt sich den Frust aus dem Leib: "Ein Skandal ist das!" Nur eine Treppe trennt den Protest von der Schlichtungsrunde um Heiner Geißler. Der Stadtrat Hannes Rockenbauch tritt vor die Menge und sagt, wie er die Dinge sieht: "Das heißt für unsere Bewegung, dass der Protest gegen Stuttgart 21 weitergeht." Für den Samstag hat das Aktionsbündnis die nächste Großdemo angekündigt. In Stuttgart beginnt die Zeit nach Heiner Geißler.