Manche Kinder brüllen länger und häufiger als andere. Doch es sind nicht Medikamente, die bei Dauergebrüll helfen können, sondern eine Therapie.

Tübingen/Heidelberg - Babygeschrei kann einem durchaus mal den letzten Nerv rauben– vor allem, wenn die üblichen Mittel wie Herumtragen im Wiegeschritt, Lieder-Vorsummen oder Stillen keine Wirkung zeigen. Die Kinder liegen im Bett, mit hochrotem Kopf, und sie schreien, schreien und schreien. Endlich Ruhe! Um das zu erreichen, greifen etliche Eltern zu unlauteren Mitteln. So warnte das Gesundheitsministerium Bayern nun vor einem neuen gefährlichen Trend: So geben immer mehr Eltern ihren Kindern Schlafmittel, erklärt Ministerin Melanie Huml (CSU). Das habe „schwerwiegende gesundheitliche Folgen für die Kinder“. So können die Mittel nicht nur abhängig machen und Organe wie Leber und Niere schädigen, sondern – so der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte – auch zum Atemstillstand führen.

 

Doch was tun, wenn ein Kind immer wieder brüllt und quengelt – und sich durch nichts beruhigen lässt? Wissenschaftlich gesehen gelten rund 15 bis 20 Prozent aller Säuglinge als sogenannte Schreibabys. Die Ursachen hierfür sind wissenschaftlich noch nicht im Letzten geklärt. Widerlegt ist aber die Annahme, dass der Bildungsgrad der Eltern, das Alter der Mutter oder das Geschlecht des Kindes eine Rolle spielt. Ursache ist vielmehr ein Mix aus kindlicher Veranlagung und elterlichem Verhalten.

Die meisten Kinder hören nach der 14. Lebenswoche mit dem Dauergebrüll auf

Laut Familientherapeut Manfred Cierpka, ehemals Ärztlicher Direktor des Instituts für Psychosomatische Kooperationsforschung und Familientherapie am Zentrum für Psychosoziale Medizin des Uniklinikums Heidelberg, können sich manche Kinder schlechter als andere Säuglinge selbst vor Reizen schützen und sich beruhigen. „Man geht davon aus, dass bestimmte Zentren im Gehirn noch länger reifen müssen als bei anderen Kindern“, so Cierpka. Dafür spreche die Beobachtung, dass fast alle Kinder schlagartig mit dem Dauergebrüll aufhören, wenn die Reifung abgeschlossen ist. Das ist meist nach den ersten 14 Lebenswochen der Fall.

Allerdings gibt es auch immer wieder Kinder, die über diesen Zeitraum hinaus ein auffälliges Schreiverhalten zeigen. Dann, so Cierpka, liegt meist eine regulatorische Störung vor. „Die Kinder sind nicht in der Lage, ihre eigenen Gefühle richtig zu steuern.“ Oft wird dies verstärkt von psychosozialen Faktoren – etwa, wenn die Mutter nach der Geburt unter psychischer Erschöpfung oder einer Depression leide und nicht angemessen auf das ständige Weinen ihres Babys reagieren könne. „Umso wichtiger ist es, dass Betroffene Hilfe bei Eltern-Säuglings-Ambulanzen suchen“, so Cierpka. Denn ist die Beziehung zwischen Vater, Mutter und Kind stark belastet, kann dies zur Ablehnung des Babys oder gar zu Misshandlungen führen.

Viele Eltern entwickeln Schuldgefühle, weil all ihre Beruhigungsversuche ins Leere laufen

Ingrid Löbner arbeitet in einer solchen Beratungsstelle für Eltern mit Säuglingen von Pro Familia in Tübingen und Reutlingen. Dort versucht die Diplompädagogin, den betroffenen Eltern wieder Selbstbewusstsein und Sicherheit im Umgang mit ihrem Kind zurückzugeben. „Viele entwickeln Schuldgefühle, weil all ihre Beruhigungsversuche ins Leere laufen.“ Die positive Erfahrung sowohl für Eltern als auch das Kind bleibt aus. Also zeigt Löbner, wie man ein Baby hält, „so dass man sich gegenseitig wieder spürt und miteinander in die Ruhe findet“. Dabei bräuchten Eltern Hilfe. Bei ihrer Arbeit beobachtet sie immer mehr, wie es Eltern unterschätzen und nicht darauf vorbereitet sind, was es bedeutet, ein Kind Tag und Nacht zu versorgen: „Viele stehen unter Druck, den gesellschaftlichen Anforderungen zu entsprechen, in der Arbeitswelt zu funktionieren und gleichzeitig ein Kind großzuziehen.“ Stattdessen sei es – nicht nur bei Schreibabys – wichtig, sich nach der Geburt auf das Kind und seine Bedürfnisse einzulassen. Das braucht Zeit. „Die muss man Eltern geben – und sie darin bestärken, dass sie diese auch brauchen.“

Welche Medikamente besonders schädlich sind

Kinderärzte fordern Rezeptpflicht für Beruhigungsmittel

Wie viele schreiende Kinder mit Medikamenten ruhiggestellt werden, darüber gibt es keine Zahlen. Viele der eingesetzten Mittel sind rezeptfrei zu bekommen – etwa das Antihistaminika Doxylamin, Diphenhydramin und Dimenhydrinat. Weshalb der Berufsverband der Kinder- und Jugendärzte schon seit längerem eine Rezeptpflicht für alle Beruhigungsmittel fordert.

Teilweise sind die Präparate bei Schlafstörungen zugelassen, etwa das rezeptfreie Sedaplus. Das doxylaminhaltige Mittel kann laut Zulassung ab einem Alter von sechs Monaten verwendet werden. Andere Präparate sind gegen Übelkeit und Erbrechen, etwa Emesan oder Vomex. Beide können ab einem Körpergewicht von acht Kilogramm verwendet werden. Emesan enthält das H1-Antihistaminikum Chlorphenhydramin, Vomex enthält Dimenhydrinat.

Laut einem Bericht der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ und der „Deutschen Apotheker-Zeitung“ seien in Deutschland bislang sieben Todesfälle in diesem Zusammenhang dokumentiert. Auch die Giftnotrufzentralen vermelden Nachfragen.