Bereits zum Schulhalbjahr konnten mehr als 70 überforderte Gymnasiasten in Stuttgart auf Real- und Gemeinschaftsschulen vermittelt werden. Ermöglicht wurde dies durch eine gemeinsame Aktion der Schulleiter dieser Schularten.

Stuttgart - Nicht jeder Schüler kommt auf dem Gymnasium klar. Auch in diesem Schuljahr stellte sich bereits zum Zwischenzeugnis heraus, dass etliche Gymnasiasten spätestens im Sommer diese Schulart verlassen müssen, weil sie deren Anforderungen nicht erfüllen. 35 solcher „Härtefälle“ konnten nun bereits zum Schulhalbjahr auf Real- oder Gemeinschaftsschulen wechseln. Sie wurden laut Birgit Popp-Kreckel, der stellvertretenden Leiterin des Staatlichen Schulamts Stuttgart, vorrangig versorgt. Noch einmal so viele Gymnasiasten hätten aus freien Stücken wechseln wollen – und seien in einer zweiten Tranche ebenfalls vermittelt worden. „Sie sind alle untergekommen“, so Popp-Kreckel. „ Ermöglicht wurde dies durch eine gemeinsame Aktion der Schulleiter aller beteiligten Schularten. Aber nicht alle konnten auf ihre Wunschschule wechseln“, berichtet Popp-Kreckel. Darüber hinaus hätten etliche Eltern den Schulwechsel selber in die Hand genommen. Wie viele, das sei statistisch nicht erfasst.

 

Vor allem die Klassenstufen acht und neuen machen vielen Gymnasiasten zu schaffen

„Es gibt eigentlich keinen Anspruch auf einen Schulartwechsel zum Halbjahr“, sagt Holger zur Hausen, der geschäftsführende Schulleiter der Stuttgarter Gymnasien und Leiter des Zeppelin-Gymnasiums. Aber wenn ein Schüler schon Klasse sieben wiederholt habe und auch in Klasse acht erneut zu scheitern drohe, sei es für diesen Schüler erfolgversprechender, das zweite Halbjahr sinnvoll zu nutzen – in einer für ihn passenderen Schulart.

Bereits vor zwei Jahren hatte zur Hausen im Schulbeirat die Notlage vieler Schüler geschildert: Fünftklässler, die überfordert und verzweifelt sind und ihre Klassenarbeiten zerreißen – und Lehrer, die gesundheitlich an der Grenze sind. Inzwischen seien es mehrheitlich Schüler der Klassenstufen acht und neun, die den gymnasialen Anforderungen nicht gewachsen sind. „Da wird’s in den Gymnasialklassen luftiger und in den Real- und Gemeinschaftsschulen voller“, berichtet der Schulleiter.

Kultusministerin Eisenmann bedauert die Abschaffung der verbindlichen Empfehlung

Zu dieser Entwicklung beigetragen hatte die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung im Jahr 2012. Seither können Familien die Schulart frei wählen – unabhängig von der Empfehlung. Seit zwei Jahren müssen die Eltern diese in der fünften Klasse wieder vorlegen, allerdings unverbindlich. Dennoch hatten vor einem Jahr in Stuttgart 143 „Härtefälle“ das Gymnasium zum Halbjahr aus Leistungsgründen verlassen müssen, im Sommer 2019 waren es weitere 300 Schüler. Jetzt will Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) wieder eine höhere Verbindlichkeit der Empfehlung erreichen und das gesamte Übergangsverfahren transparenter gestalten. „Die Abschaffung der verbindlichen Grundschulempfehlung in der vergangenen Legislaturperiode war ein Fehler“, sagt Eisenmann. „Wir wollen die Verbindlichkeit stärken, die Beratung ausbauen und wir brauchen eine durchgängige Beobachtung des einzelnen Schülers.“ Die weiterführenden Schulen brauchten möglichst passgenaue Informationen, dann sei eine gezieltere Förderung der Schüler möglich.

Zunehmend wollen Gymnasiasten auf die Gemeinschaftsschule wechseln

Unterdessen mühen sich die Gymnasien, die gescheiterten Kinder wieder aus dem Brunnen zu holen. Meist gehe einer Entscheidung über einen Wechsel der Schulart ein mehrstufiges Beratungsverfahren und viele Elterngespräche voraus, so zur Hausen. Eine gute Beratung der abgebenden Schule helfe den Familien sehr dabei, einen solchen Wechsel anzunehmen, so Popp-Kreckel. Sie lobt hierbei die gute Kooperation der Schulen. Bei der gemeinsamen Lenkungssitzung seien die Schulleiter der Gymnasien hervorragend vorbereitet gewesen und hätten bereits die Wunschschulen und Datenblätter der wechselwilligen Schüler parat gehabt. „Uns geht es darum, dass es geräuschlos funktioniert“, sagt Popp-Kreckel. Auch dem Gesamtelternbeirat der Stuttgarter Schulen sind keine Klagen bekannt, wie dessen Vorsitzender Georg Lois auf Anfrage sagt. Allerdings, so Popp-Kreckel, seien einige Realschulen bereits voll bis sehr voll gewesen, etwa die Park-Realschule, Neckar-Realschule, Fitz-Leonhard-Realschule und Robert-Koch-Realschule. Wie viele Schüler jetzt auf Real- und Gemeinschaftsschulen gewechselt sind, könne sie nicht sagen. Zur Hausen hat beobachtet: „Zunehmend wollen Kinder auch auf die Gemeinschaftsschule.“ Immer noch erhalte das Schulamt Anfragen von Eltern, die ihr Kind jetzt vom Gymnasium nehmen wollen, so Popp-Kreckel. Aber: „Jetzt ist ein Wechsel nicht mehr möglich.“

Und, so die Schulamtsvize: „Es gibt auch beratungsresistente Eltern.“ Manchmal, so erklärt zur Hausen, hätten Eltern auch eine falsche Erwartung – „die sitzen es bis zuletzt aus“. Auch Popp-Kreckel hat diese Erfahrung gemacht: „Manche Familien kümmern sich erst nach den Sommerferien, wenn die Schule wieder anfängt – und gehen erst mal in Urlaub.“ Womöglich gingen diese davon aus, dass dem Kind schon eine Schule in der neuen Schulart zugewiesen werde. Dabei müssten sich Eltern aktiv darum kümmern. Zur Hausen versichert: „Wir wollen die Kinder nicht loswerden, wir wollen den besten Erfolg für die Schüler.“ Welche Grundschulempfehlung die Wechsler haben, erhebt das Schulamt nicht.

Auswirkung der nicht verbindlichen Grundschulempfehlung

Seit 2012, seit die Grundschulempfehlung nicht mehr verbindlich ist, ist die Zahl der Kinder, die trotz anderslautender Empfehlung aufs Gymnasium angemeldet wurden, nach oben geschnellt – landesweit von 0,8 Prozent im Schuljahr 2011/12 auf bis zu 13 Prozent im Schuljahr 2016/17. Im Schuljahr 2018/19, seit die Empfehlung bei der Anmeldung wieder vorgelegt werden muss, sank der Anteil auf 11,4 Prozent.

In Stuttgart mussten in den vergangenen Jahren jeweils mehrere Hundert Kinder das Gymnasium im Sommer aus Leistungsgründen verlassen. Zum Schuljahr 2019/20 waren es mehr als 300.