Natürlich machte Andres Veiel – der pietistischen Leistungsethik folgend – einen ordentlichen Studienabschluss. Dem Wunsch des Vaters nach einer Promotion, um dem „halbseidenen Fach“, wie es in der Familie hieß, eine akademische Weihe zu verleihen, verweigerte er sich allerdings. Ihn bewegte anderes. „Ich wollte den Luxus genießen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich interessieren.“

 

Es waren die 80er Jahre, die Blöcke standen eisern, die Schulterpolster in den Jacketts waren riesig, die Neue Deutsche Welle beschäftigte sich mit dem Bruttosozialprodukt, und das Kino entdeckte die deutsche Komödie neu.

Andres Veiel lag mit seinen Projekten weit jenseits des Mainstreams. Immer geht es in seinen Arbeiten um politisches Handeln und die Frage, wie sich Zeitgeschichte und die persönliche Biografie seiner Protagonisten so miteinander verweben, dass sich daraus eine individuelle und gesellschaftliche Katastrophe entwickelt.

Viele der Fragen, die Veiel in seinen Filmen bearbeitet, ergeben sich auch aus seiner eigenen Biografie. „Die Überlebenden“ führte ihn zurück nach Möhringen. „Es war die erste Rückkehr nach 15 Jahren“, sagt er. „Ich ging zurück, weil mich diese Fragen nach dem Warum nicht in Ruhe ließen.“ Wer diesen sehr persönlichen Film anschaut und vielleicht auch noch in derselben Welt aufgewachsen ist, den ergreift vor allem die starke innere Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten, die die eigene hätten sein können.

Drei ehemalige Mitschüler stehen im Mittelpunkt dieser heftigen Erkundung. Alle drei haben sich in den 80er Jahren das Leben genommen, und Veiel verknüpft nun in seinem Film die Rekonstruktion der Biografien mit der genauen Beschreibung der drückenden Atmosphäre der deutschen Provinz und Fragen nach dem Umgang mit der deutschen Vergangenheit.

Veiel war gerade von einer wilden Reise nach Neuguinea mit Freunden zurück, erspart mit Altpapiersammeln in Stuttgart, hatte einen Studienplatz an der FU bekommen, Psychologie. Der Vater, Rechtsanwalt, war nicht angetan, er wollte einen Juristen in der Familie. Aber Andres interessierte sich weniger für diese Art von Gesetzmäßigkeiten. Er spürte zwei Dinge sehr stark: „Lebenslust. Und Neugierde.“

In Berlin war der Anfang schwer. Winter eben, das heißt: Nacht um kurz nach vier am Mittag, Smog, Kohlestaubflusen in der Luft, endloses Grau. „Ich hab’ mir diese Stadt praktisch verordnet“, sagt Andres Veiel. „Aber am Anfang brach das Glück nicht aus. Eher die Einsamkeit.“ Andres, aus einer Familie mit festen, tiefen Wurzeln im Südwesten, merkte, wie es ist, in Berlin zum Flachwurzler gemacht zu werden: „Ich hatte ein volles Adressbuch, aber mir fehlten die gewachsenen Bande.“

Drei, vier Jahre dauerte das Ankommen. Er studierte, gründete mit Freunden ein Guerillatheater, experimentierte mit Malerei. Alles, was er machte, war immer politisierte Kunst, schon bevor er Mitte der 80er Jahre den Film für sich entdeckte. „Wir gingen in einen Supermarkt, der eine erklärte der Kassiererin, dass er nicht bezahlen könne, weil er kein Geld habe. An der Nachbarkasse inszenierte der andere einen Wutausbruch und weigerte sich ebenfalls zu zahlen.“ Gesetzmäßigkeiten hinterfragen, auf Nahtstellen herumtanzen, bis sie brüchig werden – dafür eignet sich diese Stadt. „Sie ist mein Instrument“, sagt Veiel. „Sie ist morbide, sie ist ehrlich in ihren sozialen Brüchen und Verwerfungen, und sie zeigt ihre Wunden her.“

Jenseits des Mainstreams

Natürlich machte Andres Veiel – der pietistischen Leistungsethik folgend – einen ordentlichen Studienabschluss. Dem Wunsch des Vaters nach einer Promotion, um dem „halbseidenen Fach“, wie es in der Familie hieß, eine akademische Weihe zu verleihen, verweigerte er sich allerdings. Ihn bewegte anderes. „Ich wollte den Luxus genießen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich interessieren.“

Es waren die 80er Jahre, die Blöcke standen eisern, die Schulterpolster in den Jacketts waren riesig, die Neue Deutsche Welle beschäftigte sich mit dem Bruttosozialprodukt, und das Kino entdeckte die deutsche Komödie neu.

Andres Veiel lag mit seinen Projekten weit jenseits des Mainstreams. Immer geht es in seinen Arbeiten um politisches Handeln und die Frage, wie sich Zeitgeschichte und die persönliche Biografie seiner Protagonisten so miteinander verweben, dass sich daraus eine individuelle und gesellschaftliche Katastrophe entwickelt.

Viele der Fragen, die Veiel in seinen Filmen bearbeitet, ergeben sich auch aus seiner eigenen Biografie. „Die Überlebenden“ führte ihn zurück nach Möhringen. „Es war die erste Rückkehr nach 15 Jahren“, sagt er. „Ich ging zurück, weil mich diese Fragen nach dem Warum nicht in Ruhe ließen.“ Wer diesen sehr persönlichen Film anschaut und vielleicht auch noch in derselben Welt aufgewachsen ist, den ergreift vor allem die starke innere Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten, die die eigene hätten sein können.

Drei ehemalige Mitschüler stehen im Mittelpunkt dieser heftigen Erkundung. Alle drei haben sich in den 80er Jahren das Leben genommen, und Veiel verknüpft nun in seinem Film die Rekonstruktion der Biografien mit der genauen Beschreibung der drückenden Atmosphäre der deutschen Provinz und Fragen nach dem Umgang mit der deutschen Vergangenheit.

Rückkehr nach Stuttgart

Es dauert oft lange, bis Veiel die Bilder gefunden hat, die verdichtet zeigen, was er zeigen will. In den „Überlebenden“ sind es sorgsam geschnittene Vorgartenhecken, geschlossene Rollläden, es sind samstägliche Straßenszenen, Männer um die 40 – Mitschüler, die sich der Bitte beugen, ein Klassenfoto nachzustellen, auf dem drei fehlen. Die Herstellung der Atmosphäre ist allein schon seelische Millimeterarbeit, aber: Wie macht man das, einen Vater nach dem Freitod des Sohns fragen? Ihn sagen zu lassen, dass es ein Unfall war, im Gesicht die Unerträglichkeit der Wahrheit, die dann von anderen ausgesprochen wird. Es gebe eine ethisch-moralische Grenze, sagt Andres Veiel. Er will niemanden denunzieren in dem Sinne, dass er ihn etwas sagen lässt, was er vielleicht sonst nicht gesagt hätte. „Ich weiß, dass ich manchmal den Menschen etwas antue“, sagt er. „Es sind schwierige Entscheidungen. Hier hatte ich das Gefühl, wenn ich das vertusche, trage ich zum Negieren des Freitods bei.“

Eineinhalb Jahre arbeitet Andres Veiel an dem Film, ein halbes Jahr lebte Andres Veiel dafür in Stuttgart. Zu seiner Arbeit gehört es auch, dann nicht einfach wegzurennen. Damals zeigte er den Film in der Kirchengemeinde, es kamen viele, man diskutierte, aus dem bleiernen Schweigen wurden Gespräche.

Warum versenkt sich einer in solche Geschichten, gräbt in den tiefsten Schmerzen der anderen? Der Tod, sagt Andres Veiel, wirke oft wie ein Brennglas. Was wehtut, kann auch zu einer Art „verdichteter Erkenntnis“ führen. Aber wer stellt sich dem freiwillig? Traudl Herrhausen zum Beispiel, die Ehefrau des ermordeten Alfred Herrhausen, sprach am Anfang nur mit dem Filmemacher, um ihm zu erklären, dass sie nicht über den Tod ihres Mannes sprechen wird, vor allem in einem Film, der den Mörder als menschliches Wesen mit Biografie daneben stellt. Es entstand, nach vier Jahren, „Black Box BRD“, für den Veiel den Europäischen und den Deutschen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm erhielt und der inzwischen etliche Male auch im Fernsehen zu sehen war.

„Der Kampf ist vorbei, die Wunden sind offen“, heißt es in der Einführung zu „Black Box BRD“ – ein typischer Satz für den Filmemacher. Veiel sagt: „Irgendwie geht es mir in meiner Arbeit auch immer darum, etwas zu heilen.“ Wenn er davon erzählt, wie Traudl Herrhausen mehrfach in den Vorgesprächen vom Tod ihres Mannes berichtete, dann klingt es wirklich ein bisschen wie eine Therapie. Die „Überlebenden“ war in dieser Hinsicht wohl der Film, der ihn am meisten persönlich berührt hat: „Auf eine Art wurde es auch für mich eine Aussöhnung mit meiner Heimat.“

Hier, auf der Terrasse des Kreuzberger Cafés, spürt man aber die Distanz. Der Filmemacher lebt gleich um die Ecke mit seiner Freundin und seinem Sohn. Hier ist sein Zuhause. Berlin ist der Ort, der ihn auffängt, wenn er wiederkommt von den extremen Reisen in die Seele anderer Leute, auf die er sich mit seinen Filmen begibt.