Wie ergeht es Schwaben in der Bundeshauptstadt? In einer Porträtserie sucht unsere Berlin-Korrespondentin Katja Bauer nach Antworten. Teil drei: der Filmemacher Andres Veiel.

Berlin - Wer nicht aus Berlin stammt, sondern irgendwann aus dem Süden hier heraufgezogen ist, der spürt meistens im ausgehenden Sommer diese leise, nagende Angst vor dem Winter. Erst beschwichtigt man sich noch selbst, schließlich kommt erst mal der Herbst, und da holt die Stadt mit ihren Lichtern und Farben zur heftigen Gegenwehr aus. Und es besteht ja, immerhin, die Möglichkeit, dass man sich mit den Jahren auch an das Klima gewöhnt haben könnte. Aber dann ist der Winter da. Stahlgrau, sibirisch, endlos.

 

Andres Veiel sitzt in der hellen Mittagssonne, und er blinzelt nicht einmal. Die Menschen um ihn herum tragen dunkle Brillen, der weiße Marmor der Bistrotischchen im Café Strauss reflektiert die Helligkeit. „Ich brauche Licht“, sagt Veiel. Ein Satz wie gestanzt für einen Filmemacher. Das ist Andres Veiel – genauer: einer der profiliertesten Dokumentarfilmer der Republik. Einem großen Publikum ist er seit 2001 bekannt, da erschien sein Kinofilm „Black Box BRD“, in dem er die Lebenswege des Deutsche-Bank-Managers Alfred Herrhausen und des RAF-Attentäters Wolfgang Grams einander gegenüberstellt.

Es sind solche Polarisierungen, Verdichtungen, mit denen Veiel arbeitet – und die große Frage, die er immer wieder verhandelt, lautet: Wie werden Menschen zu denen, die sie sind – und wie viel hat Zeitgeschichte mit persönlicher Biografie zu tun? Oder anders gefragt: Wieso wird der eine Bankier und der andere Terrorist?

Hier am Kaffeehaustisch sitzt Veiel oft stundenlang, denkt, schreibt, konzipiert. Das Strauss ist einer dieser wunderbaren Plätze, die man finden kann, wenn man sich hineinfallen lässt in den Strudel der großen Stadt: Mitten auf einem Kreuzberger Friedhof hat vor ein paar Jahren ein Wirtspaar die alte Aufbahrungshalle zum Kaffeehaus gemacht. Man könnte sich über Pietät unterhalten, über Grusel, über Konventionen. Macht keiner.

Lebenslust und Neugierde

Und weil es also in Berlin die Chance gibt, aus einem toten Platz einen Ort zu machen, an dem sich das Leben gut spüren lässt, wird hier jetzt geredet, gelacht, geheult, gearbeitet. Man kann hier fühlen, was an dieser Stadt Menschen wie Andres Veiel anzieht, schon immer angezogen hat: Offenheit. „Ich wollte vor allem weit weg aus dieser Welt der verschlossenen Mülltonnen und Garagentore, in der die Menschen einander fragen, welches Auto sie fahren.“ Stuttgart-Möhringen 1981, zwischen Daimlerzentrale und einem Bahnviadukt, auf dem man die steingrauen italienischen Züge ins sehnsuchtsbelegte Neapel fahren sehen konnte.

Veiel war gerade von einer wilden Reise nach Neuguinea mit Freunden zurück, erspart mit Altpapiersammeln in Stuttgart, hatte einen Studienplatz an der FU bekommen, Psychologie. Der Vater, Rechtsanwalt, war nicht angetan, er wollte einen Juristen in der Familie. Aber Andres interessierte sich weniger für diese Art von Gesetzmäßigkeiten. Er spürte zwei Dinge sehr stark: „Lebenslust. Und Neugierde.“

In Berlin war der Anfang schwer. Winter eben, das heißt: Nacht um kurz nach vier am Mittag, Smog, Kohlestaubflusen in der Luft, endloses Grau. „Ich hab’ mir diese Stadt praktisch verordnet“, sagt Andres Veiel. „Aber am Anfang brach das Glück nicht aus. Eher die Einsamkeit.“ Andres, aus einer Familie mit festen, tiefen Wurzeln im Südwesten, merkte, wie es ist, in Berlin zum Flachwurzler gemacht zu werden: „Ich hatte ein volles Adressbuch, aber mir fehlten die gewachsenen Bande.“

Drei, vier Jahre dauerte das Ankommen. Er studierte, gründete mit Freunden ein Guerillatheater, experimentierte mit Malerei. Alles, was er machte, war immer politisierte Kunst, schon bevor er Mitte der 80er Jahre den Film für sich entdeckte. „Wir gingen in einen Supermarkt, der eine erklärte der Kassiererin, dass er nicht bezahlen könne, weil er kein Geld habe. An der Nachbarkasse inszenierte der andere einen Wutausbruch und weigerte sich ebenfalls zu zahlen.“ Gesetzmäßigkeiten hinterfragen, auf Nahtstellen herumtanzen, bis sie brüchig werden – dafür eignet sich diese Stadt. „Sie ist mein Instrument“, sagt Veiel. „Sie ist morbide, sie ist ehrlich in ihren sozialen Brüchen und Verwerfungen, und sie zeigt ihre Wunden her.“

Jenseits des Mainstreams

Natürlich machte Andres Veiel – der pietistischen Leistungsethik folgend – einen ordentlichen Studienabschluss. Dem Wunsch des Vaters nach einer Promotion, um dem „halbseidenen Fach“, wie es in der Familie hieß, eine akademische Weihe zu verleihen, verweigerte er sich allerdings. Ihn bewegte anderes. „Ich wollte den Luxus genießen, mich mit Dingen zu beschäftigen, die mich interessieren.“

Es waren die 80er Jahre, die Blöcke standen eisern, die Schulterpolster in den Jacketts waren riesig, die Neue Deutsche Welle beschäftigte sich mit dem Bruttosozialprodukt, und das Kino entdeckte die deutsche Komödie neu.

Andres Veiel lag mit seinen Projekten weit jenseits des Mainstreams. Immer geht es in seinen Arbeiten um politisches Handeln und die Frage, wie sich Zeitgeschichte und die persönliche Biografie seiner Protagonisten so miteinander verweben, dass sich daraus eine individuelle und gesellschaftliche Katastrophe entwickelt.

Viele der Fragen, die Veiel in seinen Filmen bearbeitet, ergeben sich auch aus seiner eigenen Biografie. „Die Überlebenden“ führte ihn zurück nach Möhringen. „Es war die erste Rückkehr nach 15 Jahren“, sagt er. „Ich ging zurück, weil mich diese Fragen nach dem Warum nicht in Ruhe ließen.“ Wer diesen sehr persönlichen Film anschaut und vielleicht auch noch in derselben Welt aufgewachsen ist, den ergreift vor allem die starke innere Auseinandersetzung mit Lebensgeschichten, die die eigene hätten sein können.

Drei ehemalige Mitschüler stehen im Mittelpunkt dieser heftigen Erkundung. Alle drei haben sich in den 80er Jahren das Leben genommen, und Veiel verknüpft nun in seinem Film die Rekonstruktion der Biografien mit der genauen Beschreibung der drückenden Atmosphäre der deutschen Provinz und Fragen nach dem Umgang mit der deutschen Vergangenheit.

Rückkehr nach Stuttgart

Es dauert oft lange, bis Veiel die Bilder gefunden hat, die verdichtet zeigen, was er zeigen will. In den „Überlebenden“ sind es sorgsam geschnittene Vorgartenhecken, geschlossene Rollläden, es sind samstägliche Straßenszenen, Männer um die 40 – Mitschüler, die sich der Bitte beugen, ein Klassenfoto nachzustellen, auf dem drei fehlen. Die Herstellung der Atmosphäre ist allein schon seelische Millimeterarbeit, aber: Wie macht man das, einen Vater nach dem Freitod des Sohns fragen? Ihn sagen zu lassen, dass es ein Unfall war, im Gesicht die Unerträglichkeit der Wahrheit, die dann von anderen ausgesprochen wird. Es gebe eine ethisch-moralische Grenze, sagt Andres Veiel. Er will niemanden denunzieren in dem Sinne, dass er ihn etwas sagen lässt, was er vielleicht sonst nicht gesagt hätte. „Ich weiß, dass ich manchmal den Menschen etwas antue“, sagt er. „Es sind schwierige Entscheidungen. Hier hatte ich das Gefühl, wenn ich das vertusche, trage ich zum Negieren des Freitods bei.“

Eineinhalb Jahre arbeitet Andres Veiel an dem Film, ein halbes Jahr lebte Andres Veiel dafür in Stuttgart. Zu seiner Arbeit gehört es auch, dann nicht einfach wegzurennen. Damals zeigte er den Film in der Kirchengemeinde, es kamen viele, man diskutierte, aus dem bleiernen Schweigen wurden Gespräche.

Warum versenkt sich einer in solche Geschichten, gräbt in den tiefsten Schmerzen der anderen? Der Tod, sagt Andres Veiel, wirke oft wie ein Brennglas. Was wehtut, kann auch zu einer Art „verdichteter Erkenntnis“ führen. Aber wer stellt sich dem freiwillig? Traudl Herrhausen zum Beispiel, die Ehefrau des ermordeten Alfred Herrhausen, sprach am Anfang nur mit dem Filmemacher, um ihm zu erklären, dass sie nicht über den Tod ihres Mannes sprechen wird, vor allem in einem Film, der den Mörder als menschliches Wesen mit Biografie daneben stellt. Es entstand, nach vier Jahren, „Black Box BRD“, für den Veiel den Europäischen und den Deutschen Filmpreis für den besten Dokumentarfilm erhielt und der inzwischen etliche Male auch im Fernsehen zu sehen war.

„Der Kampf ist vorbei, die Wunden sind offen“, heißt es in der Einführung zu „Black Box BRD“ – ein typischer Satz für den Filmemacher. Veiel sagt: „Irgendwie geht es mir in meiner Arbeit auch immer darum, etwas zu heilen.“ Wenn er davon erzählt, wie Traudl Herrhausen mehrfach in den Vorgesprächen vom Tod ihres Mannes berichtete, dann klingt es wirklich ein bisschen wie eine Therapie. Die „Überlebenden“ war in dieser Hinsicht wohl der Film, der ihn am meisten persönlich berührt hat: „Auf eine Art wurde es auch für mich eine Aussöhnung mit meiner Heimat.“

Hier, auf der Terrasse des Kreuzberger Cafés, spürt man aber die Distanz. Der Filmemacher lebt gleich um die Ecke mit seiner Freundin und seinem Sohn. Hier ist sein Zuhause. Berlin ist der Ort, der ihn auffängt, wenn er wiederkommt von den extremen Reisen in die Seele anderer Leute, auf die er sich mit seinen Filmen begibt.