In Stetten-Beinstein ist im Oktober ein 80-Jähriger beim Aussteigen aus der S-Bahn so schwer gestürzt, dass er sich bis heute nicht davon erholt hat. Jetzt hat er Strafanzeige gegen die Deutsche Bahn AG gestellt und überlegt sich, den Konzern auf Schmerzensgeld und Schadensersatz zu verklagen.

Weinstadt - Eva und Werner Hildebrand können wieder schäkern und scherzen. „Ich habe einen ganzen Fuhrpark im Schlafzimmer stehen“, witzelt die 82-jährige Endersbacherin. Dort parkt sie Klostuhl, Rollstuhl, Gehstuhl – das sind zurzeit die „drei Autos“ ihres 80 Jahre alten Mannes. Mit dem Gehwagen dreht der Gärtnermeister seine Runden „im Kreisverkehr“ – vom Wohnzimmer durch den Flur in die Küche und zurück. Dabei räumt ihm seine Frau „immer Vorfahrt“ ein. Doch bis zum 25. Oktober waren im Hause Hildebrand keine Verkehrsvorschriften vonnöten und schon gar keine Gehhilfen.

 

An jenem Tag kam das Paar spätabends zurück vom Urlaub im bayrischen Wald. Am Bahnhof Stetten-Beinstein wollten die beiden mit ihrem Gepäck aussteigen, Eva Hildebrand ging voraus, ihr Mann hinterher. „Ich habe nicht gesehen, dass da ein so großes Loch war“, sagt er. Denn in Stetten-Beinstein klafft zwischen S-Bahnausstieg und Bahnsteigkante ein bis zu 26 Zentimeter breiter Spalt und ein Höhenversatz von etwa 30 Zentimetern. Hildebrand geriet mit einem Bein in das Loch – und blieb stecken. Trotzdem schlossen sich die Zugtüren, Hildebrand konnte sich nicht selbst befreien. Sein Bein war eingeklemmt. In letzter Sekunde habe ein junger Mann den Fuß aus dem Spalt gezerrt und zusammen mit einem anderen Ehepaar weg von der Bahnsteigkante gezogen, erzählt er. Dann sei der Zug auch schon wieder abgefahren.

Die Tochter hat die Bahn AG bei der Polizei angezeigt

Damit ist die Geschichte aber nicht zu Ende, denn Werner Hildebrand hat Pech im Unglück gehabt. Seine künstliche Hüfte ist bei dem Unfall zersplittert, sein Oberschenkelknochen musste ersetzt werden, und das offene Schienbein ist noch immer nicht wieder verheilt. Drei Wochen war er im Krankenhaus. Noch mal drei Wochen brauchte er, um so weit auf die Beine zu kommen, dass er gestern zur Reha nach Bad Urach fahren konnte.

Seine Tochter Christl Springer hat die Deutsche Bahn AG mittlerweile wegen unterlassener Hilfeleistung und Fahrerflucht bei der Bundespolizei angezeigt. Die ermittelt bereits. Außerdem haben sich Ebbe Kögel und der Rechtsanwalt Christof Leibrand vom Verein K21 Kernen, der den ÖPNV fit für die Zukunft machen möchte, an die Familie gewandt. Die Hildebrands überlegen nun, mit der Unterstützung des Vereins die Bahn auf Schadensersatz und Schmerzensgeld zu verklagen. Denn dass der Konzern weder schriftlich noch telefonisch Kontakt aufgenommen hat, hat die Stimmungslage im Hause Hildebrand nicht verbessert.

Erst im November gab es den nächsten Sturz

„In den vergangenen zwei Jahren hat es eine Reihe schwerer Unfälle gegeben“, sagt Kögel. Etwa zehn überwiegend ältere Menschen hätten sich gemeldet und von ihren Stürzen berichtet. „Aber die Dunkelziffer ist hoch: Viele ärgern sich, weil sie sich selbst die Schuld geben an dem Sturz“, sagt Kögel, der wie Leibrand in Kernen im Gemeinderat sitzt. Dabei geht es nicht nur um den Haltepunkt Stetten-Beinstein (siehe Info); von 83 S-Bahnhöfen in der Region haben 32 keine stufenfreien Bahnsteige. Zuletzt stürzte im November in Rommelshausen eine 76-Jährige brach sich einen Knöchel.

Womöglich hat der Lokführer Werner Hildebrands Unfall wegen der Dunkelheit noch nicht einmal bemerkt. Die Fahrer seien zwar gehalten, noch einmal auf den Bahnsteig zu schauen, bevor sie wieder starten, erklärt ein Bahnsprecher. Doch nicht an allen Stationen könnten sie alles überblicken, etwa weil der Bahnhof in einer Kurve liege – wie zum Beispiel Stetten-Beinstein. Bisher sei es wegen „interner Vorschriften“ nicht möglich gewesen, die Bahnsteige an den entsprechenden Haltepunkten zu erhöhen.

Der Konzernbevollmächtigte versprach Veränderungen

Dazu gehört das so genannte Lichtraumprofil. Das ist der Abstand zur Bahnsteigkante, der freigehalten werden muss, damit Züge, die breiter sind als S-Bahnen, ungehindert fahren können und diese auch in Kurven, wo sie sich zur Kurve hin absenken, nicht hängen bleiben. Und schließlich sah die Bahn eine Erhöhung der Bahnsteige nur an Gleisen vor, an denen ausschließlich S-Bahnen – und nicht etwa auch Regionalzüge – stoppten.

Schon im Juli indes hatte Sven Hantel, der baden-württembergische Konzernbevollmächtigte der Deutschen Bahn AG, bei einem Vor-Ort-Termin in Rommelshausen erklärt, die entsprechenden Richtlinien sollten geändert werden. Seitdem allerdings hat man nichts mehr gehört, weshalb der Weinstädter Oberbürgermeister Jürgen Oswald nach Werner Hildebrands Unfall einen geharnischten Brief an die Bahn geschickt hat. Eine längere E-Mail hat der Konzernbeauftragte Hantel auch von Ebbe Kögel bekommen.

Antworten gab es bisher noch nicht. Womöglich ändert sich das aber am heutigen Dienstag. Dann ist Sven Hantel wieder bei einem Vor-Ort-Termin - dieses Mal in Schorndorf.

Bahnhöfe mit Barrieren in der Region

Der fünfte Ausführungsvertrag von 1994 sieht einen barrierefreien Ausbau der 83 S-Bahnstationen in der Region Stuttgart vor. Dabei geht es um den Zugang zu den Bahnsteigen. Und da ist die Deutsche Bahn AG fast durch. Nach Angaben eines Bahnsprechers sind lediglich die Bahnsteige in Stuttgart-Feuerbach, Stetten-Beinstein, Geradstetten und Weiler nicht über Aufzüge oder Rampen erreichbar. Anders ist es beim Zugeinstieg. Ein ebenerdiger Zugang ist nur in 51 S-Bahn-Stationen möglich.

An diesen 51 Haltepunkten sind die Bahnsteige 96 Zentimeter hoch. An den anderen 32 Bahnhöfen liegt die Bahnsteigkante 20 Zentimeter tiefer. Im Kreis Böblingen sind das Malmsheim, Rutesheim, Leonberg und Höfingen; im Kreis Esslingen sind es Mettingen, Esslingen, Oberesslingen, Zell, Altbach und Plochingen. In Stuttgart gehören Weilimdorf, Neuwirtshaus, Feuerbach und Obertürkheim dazu, im Kreis Ludwigsburg die Halte Favoritepark, Ludwigsburg, Kornwestheim, Ditzingen und Korntal. Der Rems-Murr-Kreis ist am stärksten betroffen (Backnang, Maubach, Nellmersbach, Schwaikheim, Neustadt-Hohenacker, Waiblingen, Rommelshausen, Stetten-Beinstein, Beutelsbach, Geradstetten, Winterbach, Weiler). Für die Bahnhöfe in Ludwigsburg, Esslingen und Mettingen kommt eine ganze oder teilweise Erhöhung der Bahnsteigkante nicht in Frage, weil dort S-Bahnen und Regionalbahnen an den gleichen Gleisen stoppen. Deshalb sind dort Sonderlösungen nötig.

Die seit 2013 eingesetzten neuen S-Bahnen haben zwar Schiebetritte, die den Spalt zwischen Zug und Bahnsteig überbrücken sollen. Die Technik hat aber von Anfang an nicht funktioniert. Der Hersteller Bombardier hat angekündigt, man habe eine Lösung und werde in den kommenden anderthalb Jahren alle 87 S-Bahnen mit modifizierten Schiebetritten ausrüsten.

Am Dienstag ist der baden-württembergische Konzernbevollmächtigte Sven Hantel in Schorndorf zu Gast. Beim so genannten Schorndorfer Bahngipfel wird es unter anderem um die geplante Remstal-Gartenschau 2019 gehen, aber auch um den barrierefreien Ausbau des Schorndorfer Bahnhofes.
Teilnehmen werden neben Hantel der Backnanger CDU-Bundestagsabgeordnete und Staatssekretär im Verkehrsministerium, Norbert Barthle, seinem Waiblinger Bundestagskollegen Joachim Pfeiffer (CDU) und der Schorndorfer Oberbürgermeister Matthias Klopfer (SPD). Die Ergebnisse werden im Anschluss auf einer Pressekonferenz bekannt gegeben.