Im Schädel ist der Teufel los: Sebastian Baumgarten inszeniert im Stuttgarter Schauspiel „Tote Seelen“ nach Gogol – und macht daraus eine finstere Reise durch das Absurdistan der Geldgier.

Stuttgart - Immer diese Namen! Diese langen russischen Endlosnamen, die man sich kaum merken kann, weil sie uns Westlern alle gleich in den Ohren klingen! Immerzu verwechselt man die dazu gehörenden Gesichter! Das ist bei Tschechow nicht anders als bei Gogol, wobei die falschen Zuschreibungen der Ranjewskajas und Pawlowitschs bei beiden Autoren unterschiedlich ins Gewicht fallen. Tschechow zeichnet seine Figuren mit psychologischem Strich und schafft Individuen, die sich einen Namen verdient haben, eine Einzigartigkeit also, der bei Gogol die Austauschbarkeit gegenübersteht: Seine Typen sind aus grobem Holz geschnitzt und treten als Vertreter sozialer Klassen auf, die klar definierte Untugenden verkörpern. Diese russischen Charaktermasken darf man schon mal miteinander verwechseln, auch in den „Toten Seelen“ im Stuttgarter Schauspielhaus.

 

Eigentlich sind sie ein Roman, diese „Toten Seelen“, der einzige, den Nikolai Gogol je vollendet hat, geschrieben zwischen 1835 und 1841. Daneben veröffentlichte er noch groteske Einzelnovellen wie „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ und satirische Bühnenkomödien wie den zu Weltruhm gelangten „Revisor“. Warum Sebastian Baumgarten nicht auf diese wunderbaren, noch immer Sprengkraft bergenden Theaterstücke zurückgegriffen, sondern einen Prosatext dramatisiert hat, versteht ein waches Publikum freilich schnell: weil er als Aufklärer eben noch mehr Sprengkraft will, als schon im „Revisor“ steckt – und weil er den alle Moral verachtenden, völlig unfassbaren Handel mit „toten Seelen“ als Gleichnis für eine Welt nimmt, die nicht nur während der zaristischen Sklavenhalterzeit völlig aus den Fugen geraten ist. Auch wenn der Regisseur in seiner Inszenierung nahe an Gogol bleibt, führt er den im Roman auf fünfhundert Seiten ausgebreiteten Deal mit flankierenden Videomaßnahmen an unsere Gegenwart heran: Heute reden wir von faulen Krediten. Die Sicherheiten aber, die der Romanheld Pawel Iwanowitsch Tschitschikow damals den Banken bot, waren mehr als faul. Sie waren verwest: Er handelt mit Leichen.

Wenn die Supermarktkasse klingelt

Doch, das geht: Tschitschikow reist als Mann von hervorragender Unauffälligkeit durch die Provinz und kauft den Gutsbesitzern zum Spottpreis die „toten Seelen“ ab, verstorbene Leibeigene, die in den Steuerlisten noch geführt werden und ihre Besitzer insofern belasten, als sie bis zur nächsten Revision weiterhin Abgaben für die von Hunger, Krankheit und Auszehrung dahingerafften Menschen zahlen müssen. Eine Win-Win-Situation, denn der Aufkäufer verpfändet seine neuen „Leibeigenen“ bei einer Bank, die den Betrug nicht ahnt – und schon klingelt auf der Bühne die Supermarktkasse und wirft per Videoprojektion den Kassenzettel aus: „268 tote Seelen x 500 Rubel = 134 000 Rubel“ heißt es auf dem Bon, der in aller Höflichkeit auch noch ein „Danke für den Einkauf“ aufbietet. So viel Sarkasmus war selten, so ein gut florierender Leichenhandel aber auch – und er floriert deshalb prächtig, weil alle bei diesem skrupellosen Geschäft mitmachen. Denn „tote Seelen“ hausen vor allem in lebenden Menschen, in den Angehörigen der besseren Kreise, die stumpf und fühllos, mit Eigennutz und Niedertracht ihre Zeit hinbringen, ob in den Salons der Stadt oder den Gutshäusern auf dem Land.

Kongenial greift das Bühnenbild von Thilo Reuther die Idee eines parfümierten Totenreichs auf. In der Mitte des Raums: ein hoher, pechschwarzer Totenschädel, der unten vom Röntgenbild eines Gebisses, davor von einem Metallgitter abgeschlossen wird – ein Maulkorb für die Bestie namens feine Gesellschaft, die in den leeren Augenhöhlen des Totenkopfes ihren Auftritt hat. Als wären es Pupillen, hängen nackte Glühbirnen in den finsteren Aushöhlungen, die in rascher Folge die Honoratioren des mit sich selbst zufriedenen Gemeinwesens zeigen: den Gouverneur und seine Tochter, den Gutsbesitzer und seine Frau, den Polizeimeister et al. Systematisch schließt Tschitschikow die Bekanntschaft mit wichtigen Menschen, die nichts als Karikaturen ihrer selbst sind. Sobald sie nach Art eines Wettermännchens ihren Kurzauftritt hatten, rasselt vor den Augenhöhlen eine Jalousie als Augenlid herunter, während aus dem Off – noch ein Sarkasmus – Szenenapplaus eingespielt wird. Die Namen der wie Maden im Speck lebenden Kleinstädter muss man sich wahrlich nicht merken, suggeriert diese flott makabre Seifenoper: Jede Individualität, jede Psychologie wäre Verrat an der wahren Natur seelenloser Menschen.

Kaum besser bestellt ist es freilich um das Heil der Gutsbesitzer in der Provinz. Unterhalb des urbanen Totenschädels sich vergnügend, werden sie vom Seelenaufkäufer der Reihe nach aufgesucht – und der Reihe nach gerät er in groteske Situationen, die ihren Anfang bei den Manilows nehmen. Eingezwängt sitzt Tschitschikow auf dem winzigen Sofa, als es aus der Manilowa der Svenja Liesau ausbricht: „Wussten Sie, dass mein Mann keinen Geschlechtsverkehr mag?“ – und prompt bittet der von Hanna Plaß gespielte Gatte seine Gattin, doch „ihr Mündchen aufzusperren“, damit er ihr „dies Stückchen hineinstecken kann“, eine Pille, die Frau Manilowa sediert und sabbernd zurücklässt, während die Herren freundlich plaudernd ihr Totengeschäft abschließen. Und so, mit Merkwürdigkeiten aller Art, geht die Reise durch Absurdistan weiter, wobei auch mit dem Tschitschikow des großartigen Wolfgang Michalek Merkwürdiges passiert.

Auf dem nekrophilen Egotrip

Zu Beginn, als er sich eine Spitznase aufsetzt, spielt Michalek den Betrüger noch als Figur der Commedia dell’arte, der verstohlen ins Publikum spricht. Je erfolgreicher er aber sein skandalöses Business treibt, desto gehetzter bewegt er sich zu hämmernden Metal-Rhythmen auf dem Laufband an der Bühnenrampe – und grelle Komödie, Seifenoper und Groteske schlagen um in einen zutiefst pessimistischen Rachefeldzug, den der fiebrig schwitzende, von Alpträumen geschüttelte Michalek/Tschitschikow nicht nur gegen die verkommene Gesellschaft führt, sondern auch gnadenlos gegen sein eigenes verkommenes Ich.

Denn auch das spricht für die Komplexität der Inszenierung: Baumgarten spürt den Verwandtschaftsverhältnissen zwischen Tschitschikow und seinem Erfinder nach. Gogol, ein zeitlebens rastloser Mensch, entdeckte die Übel seiner Romanfiguren als eigene Übel nämlich auch in sich selbst. Wenn er Tschitschikow verdammt, verdammt er auch seinen eigenen Dämon – und immer, wenn der Seelenverkäufer zur nächsten Station seines nekrophilen Egotrips aufbricht, dreht sich die Bühne und zeigt das insgesamt achtköpfige Ensemble in gespenstischen Zwischenakten als lauter kleine Gogols. Im düsteren Schädelinnern hacken sie mit vampirhaft aufleuchtenden Gebissen und schmerzhaft verzerrten Stimmen den Roman der „Toten Seelen“ inklusive der „Aufzeichnungen eines Wahnsinnigen“ in die Schreibmaschine – starke Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen und dem Verstand auch erschließen.

Ohne scharfes Mitdenken indes sind die „Toten Seelen“ in Stuttgart nicht zu haben. Ist die Inszenierung also verkopft? Ja, das ist sie, aber zwei starke Stunden doch auf eine so kluge und anregende Weise, dass man über die Aufführung von Sebastian Baumgarten noch lange nachdenken kann. Sie lässt Raum für Interpretationen.