Dank eines winzigen Chips unter der Netzhaut kann der fast erblindete Peter Böhm schemenhaft sehen. Das ist nicht viel, aber viel mehr als sich der 48-Jährige jemals erhofft hatte. Ohne Training und Ausdauer ist das neue Sehen, aber nicht möglich.

Stuttgart - Mit Nachtblindheit fing es an. In der Dämmerung lief Peter Böhm schon mal gegen einen Laternenpfahl oder übersah die Bordsteinkante und stolperte. Später kamen unscharfe Flecken dazu. „Das ist wie bei einem Puzzle, in dem immer mehr Teile fehlen“, beschreibt der 48-Jährige den schleichenden Verlust seiner Sehfähigkeit. Irgendwann verblassten auch die Farben, sie wurden immer heller und kontrastärmer, bis sie schließlich ganz weg waren. Gerade noch drei Prozent Sehkraft hat Böhm auf seinem rechten Auge. Die Erbkrankheit Retinitis pigmentosa ließ nach und nach die lichtempfindlichen Zellen seiner Netzhaut absterben.

 

„Mir war schon früh klar, es gibt keine Heilung“, sagt Böhm. Er hat aber einen Weg gefunden, um wenigstens ein bisschen Licht in die Dunkelheit zurückzubringen. Mit einem winzigen Mikrochip unter der Netzhaut des linken Auges kann er wieder schemenhaft sehen. Er kann die Umrisse eines Kirchturms am Horizont ausmachen oder ein helles Fenster in einem Zimmer orten. Das ist nicht viel, aber viel mehr, als er lange zu hoffen gewagt hatte.

Eine elektronische Prothese fürs Auge

Nicht mal so groß wie der Kamerachip eines Smartphones ist die Prothese für das Auge. Entwickelt wurde sie von der Reutlinger Firma Retina Implant. Auf dem Sehchip sind 1500 Fotodioden platziert, die die Arbeit der abgestorbenen Zapfen und Stäbchen übernehmen sollen. Jede einzelne Diode ist mit einem Verstärker und einer Elektrode versehen, sie wandeln das Licht, das ins Auge fällt, in elektrische Signale um. Diese wiederum ermöglichen, dass Bilder im Gehirn entstehen.

Das kann funktionieren, muss aber nicht. Bei Böhm hat es geklappt. „Man kann nicht auf Knopfdruck wieder sehen“, stellt Böhm klar, überhaupt gebe es bei den Implantaten keine Erfolgsgarantie. Das ist ihm wichtig, weil er weiß, wie hoch die Erwartungen Blinder in solchen Fällen sein können. Vielleicht waren auch die seinen so hoch, als er endlich die Zusage hatte, den Chip im Zuge einer Studie testen zu dürfen – als einer der ersten 50 Patienten.

Die Acht-Stunden-Operation an der Tübinger Universitätsklinik ist zwei Jahre her. Drei Millimeter tief sitzt der Chip unter der Netzhaut, ein Kabel läuft die Augenhöhle entlang bis zu einer Empfangsspule hinter dem Ohr. „Die ist unter der Haut und nicht zu sehen“, erklärt Böhm, der in seine Stuttgarter Wohnung in der Nähe des Bahnhofs eingeladen hat. Unter der Woche schläft der EDV-Berater dort, an den Wochenenden pendelt er nach Hause in die Nähe von Heidelberg. Da wartet sein Garten auf ihn, da wollen seine fünf Katzen gestreichelt werden.

Linien wie neongelbe Laserschwerter

Böhm schaltet ein batteriebetriebenes Kästchen an, das zweimal piepst. Dann drückt er sich eine Sendespule hinter das Ohr, ein Magnet lässt sie an der Empfangsspule haften. Als die Ärzte und Techniker die Stromversorgung seines Chips zum ersten Mal eingeschaltet haben, war die Anspannung groß. Böhm saß damals im völlig verdunkelten Testraum der Klinik, das rechte Auge abgedeckt. „Ich sah einen hellen rechteckigen Fleck in einer Distanz von vier, fünf Metern“, erinnert sich Böhm, wie ein Fenster am Ende eines Raumes. „Das war der Chip, er funktionierte.“ Er erkannte Linien in verschiedenen Stärken, mal diagonal, mal senkrecht oder horizontal angeordnet. „Die Linien blitzten auf wie die Laserschwerter in ‚Star Wars‘“, beschreibt er die ersten Eindrücke, „an den Rändern ausgefranst, gleißend neongelb.“

Mit der Prothese sehen zu lernen ist mühsam. Hand und Auge müssen aufeinander abgestimmt werden. Es entstehen Doppelbilder, das neue Sehen strengt an. Nach Wochen des Trainings gelingt es Böhm, zwölf Buchstaben zu lesen, die in schneller Folge für jeweils eine halbe Sekunde eingeblendet werden.

Mit dem Tod seiner Frau hat auch Böhms Training ein Ende

Ein Erfolg, den er danach nicht mehr wiederholen kann. Sein Training hat ein Ende, als im Oktober darauf überraschend seine Frau stirbt. Sie war ihm in den Jahren zuvor vieles zugleich: eine liebevolle Partnerin, eine Stütze im Alltag und eine Begleiterin, an deren Seite Böhm sicher durch die Welt kam. Auf dem Tandem, auf dem Beifahrersitz im Auto, oft zu Fuß, die Arme untergehakt. Bis zum Tag ihres Todes übernahm sie das Sehen für ihn, danach war er auf sich allein gestellt. Sich mit dem Blindenstock zurechtzufinden hatte er aus Gründen der Bequemlichkeit nie ausprobiert, er kann es bis heute nicht. Er nimmt lieber das Taxi, selbst für kurze Wege, oder bleibt zu Hause.

Nach langer Pause hat Böhm wieder angefangen, das neue Sehen zu üben. Er nutzt den Chip am liebsten in geschlossenen Räumen, dreht an den beiden Knöpfen des Steuerungskästchens, um die Helligkeit einzustellen, um die Intensität des Bildes zu regeln. Dann kann er mit etwas Konzentration erkennen, wo die Ecken des Raumes sind, er kann helle und dunkle Flächen unterscheiden.

Im Untergeschoss der Reutlinger Firma Retina Implant sind die Labore, in denen Langzeitbelastungen simuliert werden. „Hier werden Augenbewegungen von zehn Jahren ausgehalten“, sagt Wrobel, er zeigt auf eine Apparatur, die Silikonkabel testet. In einem Spezialschrank liegen Mikrochips in einer 65 Grad warmen Flüssigkeit. Über Details schweigt Wrobel. „Betriebsgeheimnisse“, sagt er immer mal wieder, und es wird schnell klar, dass er Besucher nicht allzu gerne durch die Räume führt.

Wichtigster Konkurrent ist die US-Firma Second Sight

Der Wettbewerbsdruck sei enorm, erzählt Wrobel, weltweit arbeiteten rund 25 Gruppen an der Entwicklung von Netzhautimplantaten. Der wichtigste Konkurrent sei die amerikanische Firma Second Sight, deren Chips mit 60 Elektroden auf die Retina gesetzt werden. Kamera und Elektronik befänden sich außen an einem Brillengestell. Wolle man das Blickfeld ändern, müsse man den Kopf bewegen, eine Augenbewegung allein bewirke nichts.

Vor wenigen Tagen war Peter Böhm wieder zu einem Sehtest an der Tübinger Augenklinik. Ein paar vergrößerte Buchstaben konnte er lesen, bei anderen musste er passen. Er starrte auf Linien, nahm Kreise mit Öffnungen in alle mögliche Richtungen in den Fokus. Zwei Prozent Sehstärke, diagnostizierten die Ärztin, für Böhm enttäuschend. In seiner besten Zeit habe er fast doppelt so gut gesehen – er will künftig wieder mehr trainieren. Der Chip biete kein Full-HD-Kino, aber eine große Chance. „Und die muss ich ergreifen.“