Stricken und Häkeln sind längst kein Hobby für Alternative mehr, sondern ein Lebensstil. Selbstgemachtes ist in. Auch in Stuttgart sind entsprechende Kurse sehr beliebt.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

Stuttgart - Als Kinder haben wir sie gehasst: Die in mühevoller Handarbeit gestrickten Pullover und die gehäkelten Mützen von der Oma. Nicht nur, weil sie unendlich kratzten, diese Wollpullover, sondern weil man damit auf dem Schulhof zu den Uncoolen gehörte. Wer Selbstgestricktes trug, war als Öko verschrien.

 

Die Zeiten sind vorbei: „Handgemachte Sachen haben seit einigen Jahren wieder einen anderen Stellenwert“, sagt Gloria Mangold. Und die muss es wissen. Die 35-Jährige betreibt seit zwei Jahren in Zuffenhausen in der Böhringerstraße 64 den Laden „Garn und Gloria“, ein Fachgeschäft für Stoffe, Wolle und Kurzwaren. „Noch vor zehn Jahren stand man im Verdacht, sich keinen besseren Pulli leisten zu können, wenn man Selbstgestricktes trug“, ergänzt Mangold. Heute beeindruckt man damit: „Wow, toll, du kannst das?“, höre man dann.

“Selfmade“ wird zum neuen Statussymbol

Selbstgemachtes habe sogar Markenklamotten den Rang abgelaufen. Und: 08/15-Teile sind out – je individueller der Stil, desto besser. Doch das ist laut Mangold nur ein Aspekt, warum Handarbeit plötzlich wieder so ein beliebtes Hobby ist. „Viele machen es als Ausgleich zur Arbeit“, sagt Mangold. „Ich sehe, was ich geschafft habe, und es entsteht etwas, was ich gebrauchen kann.“ Handarbeit sei ein Hobby mit Wertschöpfung, außerdem ein sehr entspannendes. Manche glauben sogar, Stricken senkt den Blutdruck.

Das Zukunftsinstitut, vom Verband Initiative Handarbeit mit einer Trendstudie beauftragt, kam zu dem Ergebnis, dass „Selfmade“ sich in unserer Gesellschaft zu einem Statussymbol entwickelt hat. Handgemacht steht laut der DIY-Trendanalyse für ein neues Luxusverständnis – jenseits von materiellem Reichtum. Altes Statusdenken werde dabei abgelöst von alternativen Werten wie Zeitautonomie, individuellem Wohlergehen und Lebensqualität.

Mehr als 18,6 Millionen Menschen stricken, häkeln oder nähen in ihrer Freizeit, wie die Verbrauchs- und Medienanalyse (VuMA) 2016 ergeben hat. „Vor allem Nähen ist nicht totzukriegen“, sagt Mangold. Beim Häkeln seien gerade kleine Tier- oder Fantasiefiguren angesagt, Amigurumi genannt. „Seit die einen japanischen Namen hat, sind sie wieder cool“, sagt sie.

Stricken gilt schon als das neue Yoga

Laut der DIY-Trendanalyse gibt es mehrere Entwicklungen, die den Wertewandel hin zur Handarbeit beflügeln: Individuell Gefertigtes ist der Gegentrend zum Einheitsbrei der Ketten, und immer mehr setzen aus Umweltschutzgründen auf Slow statt auf Fast Fashion. Wer selbst fertigt, weiß, woher die Produkte stammen, nimmt sich Zeit, kauft weniger. Und der Trend zur Achtsamkeit spielt eine Rolle. Stricken ist quasi das neue Yoga. Für viele DIY-Fans ist auch Sparen ein Motiv, so die Studie.

Das ist eigentlich verwunderlich, denn längst sind Häkeln und Stricken kein billiges Hobby mehr. Materialien sind teuer; teurer als ein T-Shirt von einem Textildiscounter, der Aufwand ist da noch gar nicht eingerechnet. Doch das scheint viele Verbraucher nicht zu stören. Sie geben das Geld dafür aus. Den Gesamtmarkt für Handarbeitsbedarf in Deutschland beziffert der Verband Initiative Handarbeit auf 1,28 Milliarden Euro in 2015 (2014: 1,3 Milliarden Euro). Damit sei das „Marktvolumen auf hohem Niveau“.

Auch Firmen schicken ihre Mitarbeiter inzwischen gerne zum Handarbeitskurs

Der Trend zum Nähen gelte als besonders kommerzialisiert, sagt Tanja Götz. Sie betreibt in Bad Cannstatt nebenberuflich das Handarbeits-Atelier „Kunststücke“. „Gerade vor Weihnachten wird bei Nähmaschinen oder Stoffen nicht gespart“, sagt die 42-Jährige. Tanja Götz ist eigentlich Bauzeichnerin. Handarbeit ist aber schon immer ihre große Leidenschaft gewesen, das eigene Atelier mit umfangreichem Kursangebot war irgendwann die logische Schlussfolgerung. Nähen und Filzen bietet sie zum Beispiel für Kindergeburtstage und Familienfeiern an. Neu sei die große Nachfrage für Junggesellinenabschiede und Firmenevents. „Die machen das nun gerne als Teamveranstaltung“, sagt sie.

Sie hofft, dass der Handarbeitstrend noch lange anhält. „Und natürlich, dass es bald einen Textildesigner gibt, der bei mir in der Werkstatt gelernt hat.“ Das würde ihr ein gutes Gefühl geben. Denn, so ihre Sicht, in der Schule lernen junge Menschen im Handarbeitsunterricht leider nicht mehr viel. Einige befreundete Lehrerinnen haben ihr schon vorgeschlagen, sich an der Pädagogischen Hochschule zu bewerben. „Die Lehrerinnen dort studieren ja selbst nichts Handwerkliches mehr. Die sagen, sie können das dann den Kindern auch nicht recht beibringen“, sagt Götz, die noch von ihrer Mutter und ihrer Oma gelernt hat.

Vielen Eltern sei es aber wieder wichtiger, dass die Kinder mehr selbst gestalten und werkeln, anstatt nur vor dem Fernseher oder dem Computer zu sitzen. Dafür kommen sie dann auch aus Sillenbuch oder Birkach und veranstalten ihre Kindergeburtstage in Götz’ Atelier. Und junge Frauen begeistern sich dann wieder für Handarbeit, wenn sie Mutter werden. „Heute sind ja gekaufte Adventskalender mit Schokolade für die eigenen Kinder ja schon ein wenig verpönt“, sagt Götz.