Fiat Punto gegen Formel-1-Bolide – Kreisklasse gegen Weltklasse: das ist die Anordnung in unserem Selbstversuch. Unser Redakteur und leidenschaftlicher Tischtennisspieler Tobias Schall hat sich mal mit Superstar Timo Boll an die Platte gewagt.

Chef vom Dienst: Tobias Schall (tos)

Stuttgart - Das Feld in Halle 2 im Deutschen Tischtennis-Zentrum (DTTZ) in Düsseldorf ist bereitet. Timo Boll hat die Platte in der leeren Trainingshalle aufgebaut, das Netz gespannt und sein Arbeitsgerät aus der Tasche geholt. Es ist die Eliteuniversität des deutschen Tischtennis-Sports. Hier ist das Knowhow versammelt, die besten Trainer, die besten Spieler, die besten Bedingungen.

 

Ein Tischtennis-Labor.

Und hier geht Timo Boll jetzt an die Platte. „Ist doch eine gute Trainingseinheit“, sagt die aktuelle Nummer fünf der Welt. Nett gemeint. Doch die nächsten 20 Minuten dienen nicht der Vorbereitung, sondern dem Verständnis, dem Versuch zu verstehen, was passiert, wenn Boll und die besten Profis der Welt spielen und welche Kräfte wirken, wenn doch eigentlich für den Zuschauer alles so leicht und einfach aussieht – zum Beispiel in diesen Tagen bei der Tischtennis-WM in Budapest (21. April bis 28. April).

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Weltklasse gegen Kreisklasse, darum geht es an diesem Vormittag in Düsseldorf, der jetzt schon einige Jahre zurückliegt. Ein Selbstversuch, um die Dynamik und die Komplexität dieses Sports zu erfahren. Hier Timo Boll, Linkshänder, bester deutscher Tischtennisspieler aller Zeiten, mehrmals die Nummer eins der der Welt, Rekord-Europameister, ein deutscher Jahrhundertsportler, eine Ausnahmerscheinung.

Dort ich, Tobias Schall, damals 30, heute 40, Rechtshänder, in den besten Zeiten mit 20 Jahren mit einem TTR-Wert von vielleicht circa 1600 (damals gab es diesen Wert noch gar nicht, der heute die Währung im Tischtennis und die Spielstärke definiert), langjähriger Spitzenspieler des Stuttgarter Vorortclubs TV Plieningen, aktuell in der Bezirksklasse mit einem TTR-Wert von circa 1450.

Timo Boll mustert mein Material

Tischtennis ist eine der am meisten verbreiteten Sportarten der Welt. Der Deutsche Tischtennis-Bund (DTTB) hat knapp 600 000 Mitglieder, hinzu kommen Millionen Hobbyspieler. Die meisten Deutschen haben in ihrem Leben Tischtennis gespielt, im Freibad, in der Schule, im Hobbykeller. Es ist Segen und Fluch zugleich, weil jeder denkt, dass es doch gar nicht so schwer ist. Das Ping-Pong-Image. Timo Boll legt die Stirn in Falten. Ping-Pong. Wie er dieses Wort verachtet. Er spielt kein Ping-Pong, er spielt Tischtennis. „Viele denken: ,Ach ja, das kenne ich aus dem Freibad, das kann ich auch’.“

Timo Boll mustert mein Material. Mit einem Ball testet er die Eigenschaften der Beläge, schaut, wie viel Rotation man mit diesem Schläger erzeugen kann. „Ganz schön schnell“, sagt er. Das Material ist eine Wissenschaft für sich. Es geht um Millimeter der Belagdicke, um Gummimischungen und manch anderes, was einen Laien erstaunt zurücklässt. Boll klebt bei einem Turnier jeden Tag neue Beläge auf sein Holz, ähnlich einem Tennisspieler, der den Schläger wechselt, wenn die Spannung der Besaitung nachlässt. „Die Beläge verlieren nach einem Turniertag an Griffigkeit, die Bälle kommen nicht mehr exakt“, sagt er. Ein Hobbyspieler würde das nie merken, doch auf dem Niveau von Boll ist Tischtennis eine präzise Wissenschaft. Ist nicht alles perfekt, kommen die Bälle auch nicht perfekt. Der Perfektionismus geht so weit, dass neue Spielbälle zuerst in den Mund genommen werden, um sie vom leichten Staub zu befreien, damit die Spieleigenschaften davon nicht tangiert werden.

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Wir spielen. Aber Tischtennis spielt an diesem Tisch nur einer. Wir haben das gleiche Material, aber wir sind nicht im gleichen Sport. Es gelten die gleichen Regeln, und doch setzt er sie scheinbar außer Kraft. Er kann Winkel spielen, die unmöglich erscheinen, Schnittbälle produzieren, die nicht zu kontrollieren sind. Der erste Aufschlag. Timo Boll wirft den Ball in Höhe, vielleicht 30 Zentimeter, dann wirbelt sein Handgelenk. Die entscheidende Phase des Aufschlags. Unterschnitt, Topspin, Seitschnitt? Der Aufschlag ist ein komplexes Täuschungsmanöver, wie trifft der Schläger den Ball, welcher Winkel, wie schnell? Es sieht nach Unterschnitt aus, nach einem Ball mit Rückwärtsdrall also, doch mein Rückschlag steigt in die Höhe. Es war Spin, Vorwärtsrotation. Kurz und hoch kommt mein Ball, Timo Boll kann sich die Ecke aussuchen. Ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird. Auch ein Hobbyspieler kann mit etwas Glück Aufschläge eines Profis auf die Platte spielen - aber das „wie“ ist das Problem. „Man muss den Gegner mit dem Rückschlag gleich unter Druck setzen“, sagt Boll. Sonst muss der Aufschläger den Ball nur noch „durchladen“, wie sie sagen.

Zwischen 15 und 20 verschiedene Aufschläge setzt Boll in einem Spiel ein

Der Aufschlag ist die wichtigste Waffe im Tischtennis. Stundenlang feilen die Profis daran. Der Aufschlag eröffnet das Spiel, er gibt den Takt für den folgenden Ballwechsel an. Das sogenannte Aufschlag-Rückschlag-Spiel ist die Basis. Es gibt Hunderte Variationen im Service, die den Gegner zu direkten Fehlern zwingen können, weil man den Aufschlag falsch einschätzt. Zwischen 15 und 20 setzt Boll in einem Spiel ein, solche, die direkte Punkte bringen sollen, oder solche, die ihn gut in den Ballwechsel kommen lassen. Für die Zuschauer ist das nicht immer attraktiv. Anders als im Tennis, wo bei einem Aufschlag mit 200 Stundenkilometern selbst dem Laien klar ist, warum der Rückschläger nicht in der Lage ist, den Ball zurückzuspielen, ist dies im Tischtennis nicht zu erkennen. Einfache Fehler, denken viele. Seit Jahren schon tüfteln die Funktionäre daran, mittels neuer Regeln die Aufschläge zu entschärfen. Bisher ohne großen Erfolg.

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Ein kurzer Service in die Vorhand des Hessen, er legt den Ball kurz zurück hinter das Netz, dann spiele ich mit viel Unterschnitt in die Rückhand von Timo Boll. Mein Ball hat kaum den Schläger verlassen, die Hand ist fast noch vorne am Netz, da schlägt Bolls Rückhandtopspin links in meiner Ecke ein. Viel zu schnell, als dass mehr als ein ratloses Hinterherschauen möglich ist. Mehr als 100 Stundenkilometer. „Der Punkt war schon gespielt“, sagt Boll. Mein Ball in seine Rückhand war zu schlecht, heißt das übersetzt, nicht aggressiv genug, nicht platziert genug. Er konnte sich aussuchen, wo er ihn hinspielt. Er hatte Optionen - darum geht es, dem Gegner keine Optionen zu bieten.

Dann der erste Ballwechsel, der dieses Wort verdient - von Timo Bolls Gnaden. Ein paar Meter hinter der Platte spielt er locker die Bälle zurück. Der Versuch, ihn auszuspielen, misslingt. Wo ich die Bälle auch hinspiele - er ist schon lange da. Dann erhöht er von hinten ein bisschen das Tempo, verändert die Winkel, ein bisschen nach links raus, nach rechts - schon hat er mich auf dem falschen Fuß erwischt. Es sah so aus, als würde er in die Vorhandseite spielen - ehrlich gesagt war es von mir geraten. Profis raten nicht, sie antizipieren, sie lesen die Ballwechsel. Der Ball landet auf der anderen Seite, mit viel Rotation cross, unerreichbar. „Ein bisschen Bewegung ist wichtig in diesem Sport“, sagt er. Er schmunzelt. Man kennt solche Ballwechsel, nur sehen sie auf höchstem Niveau bei gleichwertigem Gegner aus, als hätte jemand die „Fast forward“-Taste gedrückt.

Timo Boll zeigt sofort an, dass der Ball die Kante noch berührt hat

Links, rechts, links - wie im Zeitraffer. Mit mehr als 150 Stundenkilometern und bis zu 10 000 Umdrehungen des Balls pro Minute gehen solche Rallyes hin und her. In Millisekunden, im ICE-Tempo, hauen sie sich die Bälle um die Ohren, nicht blindlings, sondern strategisch, immer schon den übernächsten Schlag im Blick, immer im Kopf, welche Reaktionen auf welche Varianten zu erwarten ist. Schach auf Speed. „Man reagiert nicht, sondern trifft intuitiv Entscheidungen“, sagt Timo Boll. Der erste Satz ist schnell vorbei. 3:11 aus meiner Sicht, er spielt wohl wollend - sehr wohl wollend. Wenn Timo Boll den Punkt machen will, dann macht er ihn. Diesen einen will er auch machen, doch er macht einen Fehler, seinen ersten: Ein Topspinball meinerseits landet auf seiner Tischkante, er bekommt ihn zwar noch, aber der Ball bleibt im Netz hängen. Der Europameister zeigt auf die Kante. Es ist der Reflex in diesem Sport. Es ist nicht als Entschuldigung gemeint, sondern um anzuzeigen, dass der Ball die Platte noch berührt hat. In diesem Fall war das offensichtlich, doch immer wieder touchieren Bälle noch den Tisch, ohne dass es der Schiedsrichter oder die Zuschauer es genau sehen können.

Wie damals, im WM-Achtelfinale 2005 in Schanghai. Matchball Timo Boll, ein Schlag seines Gegners Liu Guozheng landet hinter dem Tisch. Boll steht im Achtelfinale. Doch der Deutsche deutet mit dem Zeigefinger auf die Tischkante. Die Zelluloidkugel, 40 Millimeter Durchmesser, hat die Kante touchiert. Liu Guozheng hat es nicht gesehen, der Schiedsrichter hat es nicht gesehen, aber Timo Boll. Punkt für seinen Gegner, Ausgleich. Am Ende verliert Boll das Spiel, doch der Sportsgeist triumphiert. Mit Ovationen im Stehen wird der größte Gegner der Tischtennis-Supermacht später von 10 000 Chinesen gefeiert. Er habe keine Sekunde überlegen müssen, „das gehört sich so“. Boll ist eine Ikone des Fairplay. Der Prototyp des integren Sports. Wie kaum ein anderer verkörpert er die Werte des Sports.

„Es gibt Dinge, die sind sehr gut, und es gibt Dinge, die sind herausragend“

Ein Topspin beendet den zweiten Satz. 2:11. Mein Block landet weit hinter dem Tisch, die Rotation völlig unterschätzt. In der Welt spielt keiner mit derart viel Rotation wie Boll, seine große Stärke. Und die Schwächen? Timo Boll lächelt. Als würde ein Hobbyspieler diese erkennen, geschweige denn ausnutzen können. Schwächen? Er bläst die Backen auf. „Puh“, sagt er. „Also Schwächen in dem Sinne gibt es auf diesem Niveau ja nicht mehr. Es gibt Dinge, die sind sehr gut, und es gibt Dinge, die sind herausragend.“

Vielleicht ist sein Körper die einzige ernsthafte Schwachstelle. Immer wieder hat er mit Problemen zu kämpfen. Auch zuletzt wieder. Im kommt zu Gute, dass er diese einzigartige Begabung für diesen Sport hat und das Talent, sich über den Wettkampf statt über Training die Form zu holen.

Nach 15 Minuten ist alles vorbei. Mit minimalstem Aufwand, mit vielleicht fünf Einsatz, gewinnt Weltklasse gegen Kreisklasse mit 11:3, 11:2, 11:1. Das Trikot ist durchnässt, der Schweiß rinnt, hecheln. Aber nur bei einem. „War anstrengend“, sagt Timo Boll. Bei genauem Hinsehen ist eine Schweißperle auf seiner Stirn zu erahnen. Es ist warm in der Halle.

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