Die einstige Betonwüste Marienplatz hat sich zum Szene-Treff in der Stuttgarter Innenstadt entwickelt. Teil II unserer Serie zu den Plätzen im Stadtbezirk Stuttgart-Süd.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

S-Süd - Zu karg, zu wenig Bäume, nur Beton. So äußerten sich Kritiker nach der Neugestaltung des Marienplatzes vor zwölf Jahren. Schon lange interessiert das niemanden mehr. Stuttgarts hippster Ort – nach der Fluxus Mall selbstverständlich – ist über die Stadtgrenzen hinaus beliebt. Dirk Heinemann aus Esslingen kommt gerne her, wenn er beruflich in der Gegend zu tun hat. Er schätzt das gemütliche Sitzen mit Blick auf den Platz. „Ich bin mitten in der Stadt und bekomme vom Verkehr kaum etwas mit“, schwärmt der 51-Jährige. Für ihn hat der Marienplatz „etwas Südländisches“, sagt er an einem Donnerstagvormittag, während am Nachbartisch schöne junge Menschen über das Leben philosophieren. Das gefällt Heinemann. Ist das nicht zu cool alles?„Ach nein, ich fühle mich hier richtig jung“, sagt er, trinkt aus und steht auf. Er muss zur Arbeit.

 

Die anderen bleiben noch ein bisschen in der Sonne sitzen. Bis zum Mittag werden sämtliche Tische in den Restaurants und Cafés belegt sein. Aber nicht nur die vielfältigen gastronomischen Angebote ziehen die Menschen an, sondern auch die zahlreichen Veranstaltungen wie der Flohmarkt- und Krämermarkt, Adventszauber, Maifest, inzwischen ist am Marienplatz immer was los. Höhepunkt der Festivitäten ist das Marienplatzfest. Das viertägige Musikfestival, organisiert vom Galao-Chef Reiner Bocka und Tobias Reisenhofer, Geschäftsführer der Full Moon Live GmbH, ist längst eine Institution in Stuttgart und lockt jedes Jahr mehr Menschen in den Süden.

Bands aus vielen Ländern spielen im Galao

Reiner Bocka gehört zu denen, die die Verwandlung des Marienplatzes von der Betonwüste zur Hipsterhochburg erlebt und mitgeprägt haben. Als er 2009 das Galao miteröffnete, sei die Atmosphäre noch „heimelig und kuschelig“ gewesen, wie er sagt. Viele hätten ihm prophezeit, in zwei Jahren sei er wie alle seine Vorgänger wieder weg, erzählt Bocka. „Das war unser großes Glück“, sagt er heute, „wir konnten uns entfalten und unseren eigenen Stil finden.“

Inzwischen ist die kleine Kneipe an der Tübinger Straße das Wohnzimmer vieler Anwohner. Zweimal die Woche lädt Bocka Bands aus Belgien, Kanada, Kopenhagen und natürlich aus Island ein, die zwar kaum einer kennt, aber jeder cool findet, und die deshalb das Haus voll machen. Die Gäste kommen aus Spanien, Amerika, Italien und, eigentlich von überall her. Der Marienplatz ist nämlich nicht nur hip, sondern auch multikulturell.

Das alles zusammen hat ihm einst den schönen Titel „urbanste Fläche Stuttgarts“ eingebracht. Einer profitiert besonders von diesem Hype: Francesco Troiano. Der schwäbische Italiener ist quasi der Platzhirsch vor Ort. Als nach der Sanierung im Jahr 2003 niemand an den Marienplatz glaubte, hat er sich dort mit seinem Vincafé Kaiserbau angesiedelt. Im Jahr 2009 eröffnete er nebenan die Gelateria. Die Gäste stehen für die italienisch-internationalen Gerichte und die exotischen Eiskreationen wie Club Mate oder Granatapfel-Hibiskus Schlange. Troianos Erfolgsrezept? Er habe die schönste Außenterrasse und die nettesten Bedienungen der Stadt, verriet er einst.

Gastronomen verstehen sich gut

Inzwischen gehört dem heimlichen Chef des Marienplatzes und seiner Geschäftsführerin Martina Schneider auch die Szene-Pizzeria L.A. Signorina. Gleich daneben hat sich das Café Condesa von Janusch Munkwitz etabliert, das ursprünglich nur eine Interimslösung sein sollte. Längst sind die Gastronomen auch untereinander wie eine große Familie. Wer im Condesa Kaffee trinkt, darf seine Pizza drüben bestellen.

Dass dies alles so kommen würde, hätte vor zehn Jahren niemand gedacht. Als die BW-Bank im Jahr 2012 das Kaiserbau-Areal an die Copro-Gruppe verkaufte, erst recht nicht. Damals hatte man am Marienplatz ein bisschen Angst vor dem bösen Investor aus Berlin.

Die Copro-Gruppe der Familie Kimmich hat aber nicht nur ihre Ursprünge in Stuttgart. Der Geschäftsführer Marc Kimmich und seine Frau Antje leben mit den Kindern in der schwäbischen Landeshauptstadt und haben wie so viele andere auch ihr Herz an den Marienplatz verloren.

Deshalb hat das Ehepaar bei der Sanierung des denkmalgeschützten fünfgeschossigen Wohn- und Bürokomplexes auch einen großen Aufwand betrieben. Unter anderem habe man 216 Holzfenster ausgetauscht, einen Aufzug eingebaut, vier Wohnungen grundsaniert und den alten Dachboden zu einer attraktiven Dachgeschoss-Atelierwohnung umgewandelt. „Das ist unser Highlight“, sagt Marc Kimmich und zeigt deshalb gerne den Blick von dort oben über den gesamten Kessel.

Ratzer Records ist aus dem Leonhardsviertel hergezogen

Gastronomen sind die beiden eigentlich nicht. Bei der Auswahl der Betreiber haben sie jedoch ein glückliches Händchen bewiesen. „Ein Riesenanliegen war uns, keine Systemgastronomie dort zu haben, sondern besondere Einzelbetriebe, die es sonst nirgends gibt“, sagt Antje Kimmich.

Deshalb passt der Neuankömmling ihrer Meinung nach gut in den Kaiserbau. Vor Kurzem ist Ratzer Records vom Leonhardsviertel an den Marienplatz gezogen. Das Ehepaar Ratzer lässt sich nun überraschen, wie ihr Geschäft an der Hauptstätter Straße 154 laufen wird. „Wir kennen hier noch nichts, aber unsere Kundschaft hat schon versichert herzukommen“, sagt Brigitte Ratzer. Ihre Kunden würden nämlich ohnehin fast alle im Stuttgarter Süden leben. Wo auch sonst? Wohnen will nämlich rund um den Marienplatz inzwischen auch jeder.

Früher stand hier ein großes Zirkusgebäude

Historie
Der Marienplatz ist benannt nach Maria von Waldeck und Pyrmont, der späteren Frau von Wilhelm II. Im Jahr 1892 errichtete der Hofwerksmeister Albert Hangleiter dort ein Zirkusgebäude, das 3500 Personen fasste. Dort gab es neben dem Zirkus Sportveranstaltungen, Maifeiern und Parteitage. Bereits damals war der Ort ein beliebter Treffpunkt. Im Dritten Reich verwandelten die Nazis ihn in den „Platz der SA“. Nach dem Krieg war der Marienplatz lange ein Treffpunkt der Drogen- und Alkoholszene.

Pläne
Allgemein sehen auch der Bezirksbeirat und der Bezirksvorsteher Raiko Grieb die Entwicklung am Marienplatz positiv. Aufgrund der Beliebtheit wünscht man sich aber ein besseres Verkehrskonzept sowie Veranstaltungen, die auch Rücksicht auf die Anwohnern nehmen. Im Bürgerhaushalt wurden zudem mehr Sitzgelegenheiten für ältere Menschen auf dem Platz gefordert.