Ihre Spur verliert sich im Januar 1979. Seitdem sind die Stammheimer Gefangenenakten von Andreas Baader, Gudrum Ensslin, Jan-Carl Raspe und Irmgard Möller verschwunden. Sind sie versehentlich entsorgt worden oder hat sie jemand beiseite geschafft?

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Eines kann Elke Koch mit Gewissheit sagen: Sie sind dick. Und sie sind verschwunden. Die Rede ist von den Personalakten der Stammheimer RAF-Gefangenen, der in den 70er Jahren wohl prominentesten Häftlinge der Bundesrepublik. Koch wäre deren Hüterin, wenn sie denn da wären. Die promovierte Archivarin ist im Hauptstaatsarchiv Ludwigsburg für die Justizbestände unter anderem von Staatsanwaltschaft und Polizei zuständig. Die Akten der Justizvollzugsanstalt Stuttgart gehören dazu. Sie stehen seit Kochs Amtsantritt 2002 ganz oben auf ihrer Liste. Für die hartnäckige Archivarin illustrieren sie mit den übrigen Relikten einen wichtigen Zeitabschnitt der deutschen Zeitgeschichte.

 

Ein bisschen ist über die Vermissten aber schon bekannt: Zwei Bände umfasst die Akte Ulrike Meinhofs, vier Bände die von Jan-Carl Raspe, sechs Bände die von Gudrun Ensslin, vier Bände stark sind die Akten über Irmgard Möller. Alle sind sie zu umfangreich, um sie beim Großreinemachen zu übersehen. Zum letzten Mal selbst aktenkundig wurden die Akten am 5. und 9. Januar 1979. Das war 15 Monate nach den Selbstmorden von Raspe und Ensslin und dem Selbstmordversuch von Irmgard Möller.

Das belegen zwei Schriftstücke aus dem Verfahren gegen den RAF-Anwalt Claus Croissant, der wegen der Bildung einer kriminellen Vereinigung angeklagt war. Im Rahmen dieses Prozesses hatte die Haftanstalt Stuttgart-Stammheim die Aktenbündel an das Landgericht Stuttgart ausgeliehen, sie auch wieder zurückbekommen – und das auch quittiert. Andreas Baaders Akten werden nicht erwähnt. Wo sie und die anderen Akten sind oder was in der Zwischenzeit mit ihnen geschehen ist, ist bis heute unklar. Ihre Spur verliert sich im Januar 1979. Was also ist geschehen?

Akten waren Chefsache in der Anstalt

Bis zum Tag der Selbstmorde am 18. Oktober 1977, so erinnert sich der damalige Anstaltsleiter Hans Nusser, lagen die Akten, in einen Schrank eingeschlossen, im Zimmer des stellvertretenden Anstaltsleiters. Abseits der etwa 800 anderen Gefangenenpersonalakten. Spektakulär seien sie nicht gewesen, sagt Nusser. Im Fall der prominenten Gefängnisinsassen sei natürlich alles aufbewahrt worden, was mit der Haft und dem Leben dort in Zusammenhang stand. Das macht sie für die Betrachtung und das Verständnis der vergangenen Epoche interessant. „Man wundert sich, dass sie nicht mehr da sind“. sagt Nusser. Zwei Tage nach den Selbstmorden wurde er von seinem Posten in Stammheim abgezogen und kehrte bis zu seiner Pensionierung zur Stuttgarter Staatsanwaltschaft zurück.

Die Frage, ob die Akten aus Schludrigkeit oder mit Absicht entsorgt oder unrechtmäßig in den Besitz von Privatpersonen übergegangen sind, ist bis heute unbeantwortet. Wer sich mit Stammheim und dem Terrorismus der 70er Jahre beschäftigt, kann ein Lied von Verschwörungstheorien singen. Das Aktenkonvolut könnte zur Versachlichung der Diskussion beitragen. „Wer Akten vernichtet, schafft Raum für Spekulationen“, sagt Elke Koch nüchtern. Koch hält sich an Fakten, die aus Akten sprechen, da das Archivgesetz, nachdem Behörden Korrespondenzen und anderes Schriftgut nicht willkürlich vernichten, mitunter recht frei interpretiert wird. „In der JVA selbst hat man keine Erklärung“, sagt Koch, die immer wieder gebohrt hat. Dafür aber Vermutungen: 2001 hieß es, bei einer Überschwemmung seien in den 70er oder 80er Jahren große Teile der Gefangenenpersonalakten vernichtet worden. Diese These vertritt auch der frühere Vollzugsbeamte Horst Bubeck, dessen Sicht auf Stammheim der Schriftsteller Kurt Oesterle aufgeschrieben hat. Die Feuerwehr hatte im fraglichen Zeitraum keinen Pumpeinsatz in der JVA. Vermutungen, Bubeck habe die Akten beiseitegeschafft, tritt Koch entgegen. Bubeck habe ihr seine Stammheim-Überreste übergeben.

Es gibt gleich mehrere Erklärungsversuche

2003 hieß es dann aus inoffizieller Quelle, es gebe noch zwischen 100 und 200 Aktenordner zum RAF-Komplex in Stammheim. Aus dem Jahr 2005 stammt der Erklärungsversuch, die Akten seien im Justizministerium oder vom Bundeskriminalamt mitgenommen worden. Schriftlich belegt ist das jedoch nicht. In der Registratur des Justizministeriums liegen die Akten jedenfalls nicht. Das ergab eine kollegiale Anfrage im Hauptstaatsarchiv, das für die Sicherung dieser Aktenbestände zuständig ist.

Die Akten gelten schlicht als „einfach weg“. Vermutlich sind sie nach Ablauf der gesetzlichen Aufbewahrungsfrist 1997 mit anderen Gefangenenakten vernichtet worden, lautete dann 2007 der Erklärungsversuch der JVA auf Kochs weiteres Bohren. Akribisch liest sie Literatur zum Thema RAF darauf hin, ob in ihr aus den Gefangenpersonalakten zitiert wird. Alle Nachfragen bei Autoren nach ihren Quellen verliefen bisher im Sande. Regina Grimm, die die JVA von 2006 bis 2015 leitete und nach Worten Kochs peinlich berührt von deren Verschwinden war, hat noch einmal alles durchsuchen lassen – ohne Erfolg.

So bleibt Koch und der Allgemeinheit nur das Warten auf das, was Archivare Dachbodenfunde nennen. Wenn also Erben auf Schriftstücke stoßen, die die Altvorderen aus Versehen oder Übereifer vor fremden Blicken schützen wollten. Strafbar macht sich heute damit niemand mehr.