Stammheim ist vielleicht Stuttgarts berühmtester und zugleich unbeliebtester Stadtteil. Zwischen Knast, Gast- und Mehrgenerationenhaus wird klar, dass die Stadtbahn der Dreh- und Angelpunkt für die meisten Bewohner ist.

Kultur: Kathrin Waldow (kaw)

Stuttgart - Das erste Bier nach der Haft schmeckt nach Freiheit. Christine Kern weiß das. Schräg gegenüber von der Endhaltestelle in Stammheim betreibt sie in einem der ältesten Häuser im Stuttgarter Stadtteil das Gasthaus „Zum Löwen“. Einige Männer, die gerade aus der Haft in der Justizvollzugsanstalt (JVA) unweit des Ortskerns entlassen werden, finden den Weg hier her, um sich den ersten Schluck Bier auf freiem Fuß zu gönnen. „Die entlassenen Häftlinge gehen entweder vorne in die Eck-Kneipe oder kommen zu uns“, erzählt Kern.

 

Viele gehen aber auch den entgegengesetzten Weg, bis ans Ende der Asperger Straße, wo die grauen Mauern des Gefängnisses aus dem Boden ragen. „Wer die Straße nach hinten laufen muss, der hat sowieso verloren“, sagt Kern.

Drei Minuten braucht man von der Endhaltestelle bis zur JVA Stammheim, der wohl bekanntesten Einrichtung des Stadtteils. Hier waren in den 1970er Jahren Mitglieder der Rote Armee Fraktion inhaftiert, unter ihnen die bekannte Spitze, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Gudrun Ensslin. Alle drei fanden in dem Gefängnis den Tod.

Insgesamt werden hier durchschnittlich 760 Straffällige festgehalten. Nebenan entsteht gerade ein Neubau mit fünf neuen Zellentrakten, in denen ab Ende 2016 etwa 600 Häftlinge untergebracht werden sollen. Wer an Stammheim denkt, denkt an das Gefängnis. Unsere erste Station.

„Für uns endet der Kontakt an der Pforte“

Hinter den Mauern der Vollzugsanstalt führt der stellvertretende Anstaltsleiter Daniel Winkler vorbei an zahlreichen Türen durch den Besucherraum, die Wäscheausgabe und den Post- und Transportbereich. Winklers großer Schlüsselbund ist in Sekundenabständen im Einsatz. Häftlinge treten aus ihren Zellen oder kommen von ihrem Besuch mit Familienmitgliedern, Freunden oder ihrem Anwalt zurück. Winkler öffnet eine leer stehende Zelle für vier Personen. Darin stehen zwei Stockbetten, es gibt ein Waschbecken und eine Toilette. Am Gitterfenster sieht man draußen die Sonne strahlen und den grünen Innenhof des Gefängnisses, drum herum die hohe Mauer, Stacheldraht, Kameras.

Ob manch ein Insasse zum Haftantritt mit der Bahn kommt? „Die meisten Häftlinge werden von der Polizei gefasst und direkt hierher transportiert“, sagt Winkler. Trotzdem: „Es ist für jedes Gefängnis wichtig, dass es eine gute Verbindung zu öffentlichen Nahverkehrsmitteln gibt. Vor allem für die Angestellten und Besucher ist es super, dass man mit der Stadtbahn sehr schnell hier und wieder in der Stadt ist.“ 300 Angestellte hat die JVA, die jeden Tag zur Arbeit und zurück müssen, hinzu kommen die Anwälte der Gefangenen sowie die durchschnittlich 20 Besucher pro Tag.

Ob die Häftlinge nach dem Absitzen ihrer Haftstrafe mit der Bahn zurück in die Freiheit fahren? „Das wissen wir nicht. Für uns endet der Kontakt an der Pforte“, meint Winkler trocken.

Zwischen Dorfkneipe und Altenheim

Zurück im Ortskern: In Kerns Gaststätte gibt es keine Spielautomaten, keinen Fernseher. „Die Leute sollen sich hier unterhalten. Wir wollen das traditionell halten. Es gibt gute Getränke und hausgemachtes schwäbisches Essen. Wie in einer Dorfwirtschaft. Stammheim ist ja auch ein großes Dorf, das gefällt mir,“ sagt Kern und wird von einem Gast flankiert: „Aber Stuttgart ist immer noch das größte Dorf,“ ruft dieser durch den Gastraum. Für manch einen ist auch mal das Wirtshaus „Zum Löwen“ die Endstation des Tages.

„Stammheim ist eine Sackgasse“

Wie in einem früheren Dorf wird in Stammheim noch großen Wert auf die Mittagspause gelegt. Die Öffnungszeiten vieler Läden scheinen mit ihrer Mittagspause, die teilweise von 12:30 bis 15 Uhr geht, aus der Zeit gefallen. In der Apotheke an der Hauptstraße hat man sich an modernen Zeiten orientiert und auch um 13:12 Uhr geöffnet. Und das obwohl deutlich weniger Kunden in die Apotheke kommen als noch vor einigen Jahren. Laut Apothekenbesitzer Frank Schmitz sind in den letzten Jahren gleich drei Ärzte aus Stammheim abgegangen, das wirke sich auch auf den Kundenfluss in seiner Apotheke aus, der seither geringer sei.

Selbst in diesem Stuttgarter Stadtteil wohnen wolle er nicht. „Was gibt es hier?“, fragt er rhetorisch. „Stammheim ist eine Sackgasse, es gibt fast nichts Schönes an dem Ort, es gibt keine schöne Altstadt oder einen zentralen Platz wo man sich trifft. Hinter dem Gefängnis ist Schluss,“ lautet sein Urteil.

Er selbst wohne in Kirchheim/Teck und habe noch nie ernsthaft darüber nachgedacht nach Stammheim zu ziehen. Er ziehe es vor jeden Tag mehr als eine Stunde zu fahren, als in der Nähe seiner Apotheke zu wohnen. „Dafür ist es in Kirchheim zu schön. Da pendle ich lieber jeden Tag“, so Schmitz. Die gute Anbindung mit der Stadtbahn schätzt aber auch er. „Das ist beinahe das einzig Gute an Stammheim“, sagt er.

Eigenes Lied für die Straßenbahnverbindung nach Stammheim

Am 13. Mai 1950 wurde die Straßenbahnverbindung nach Stammheim als erste Neubaustrecke der Stuttgarter Straßenbahnen eröffnet, die Linie 5 übernahm auf der Strecke von Stammheim nach Möhringen den Betrieb. Es war diese Linie, die den schwäbischen Sänger und Stammheimer Wolfgang (Wolle) Kriwanek zu seinem „Stroßaboh“-Lied inspirierte.

„Bloß dr Fünfer bringt me hoim, I muß di Strassaboh no krieaga, denn laufa will I net“, singt Kriwanek in seinem Straßenbahn-Hit. Seit 2007 fährt zwar nicht mehr die Fünf, sondern die U15 den Stuttgarter Stadtteil an, aber an der Grundaussage des Schwabenrockers hat sich wohl bis heute nichts geändert. „Wir wohnen gerne hier. Aber ohne die Stadtbahn wäre es fast undenkbar. Wir gehen gerne in die Stadt, in die Wilhelma oder ins Museum. Mit dem Auto kann das schon mal drei bis viermal so lange dauern, bei dem Verkehr“, sagt ein junger Mann. Er hat gerade seine Tochter von der Schule mit dem Skateboard abgeholt. Sie wohnen gerne hier, weil es so ruhig sei.

Endstation Endhaltestelle

Ruhe und Abwechslung mit der Bahn

Etwa 12.000 Menschen leben in Stammheim. Einige davon auch im Luise-Schleppe-Haus, ein Seniorenzentrum, das Teil des Stammheimer Generationenhauses ist. Einen Steinwurf von der Haltestelle entfernt. Hier sind 110 Senioren untergebracht, in die dazugehörige Kindertagesstätte gehen täglich 70 Kinder. „Die Anbindung mit der Straßenbahn ist auch für uns sehr wichtig“, sagt Heimleiter Ronny Martin und lobt die Barrierefreiheit der Stadtbahn, die es zuvor nicht gab.

„Wir machen viele Ausflüge mit den Bewohnern oder mit den Kindern und nutzen dafür die Stadtbahn. Auch für unsere Mitarbeiter ist das wichtig, es wohnt ja nicht jeder in Stammheim oder hat ein Auto, das ist sogar ein Thema bei Bewerbungsgesprächen“, so Martin. Wer hier wohnt, schätze die kurzen Wege in Stammheim, den Zusammenhalt und – die Ruhe des Stadtteils.

Eine junge Studentin aus Bamberg, die für ein Bewerbungsgespräch in der JVA angereist ist und gerade aus der ankommenden Bahn aussteigt, braucht nicht lange, um die Abgeschiedenheit in Stammheim zu realisieren. Sie bewirbt sich als Psychologin für ein Praktikum und ist zu früh dran. „Ich wollte hier noch einen Kaffee trinken, aber jetzt bleibe ich einfach an der Bahnstation sitzen. Hier gibt’s ja nicht so viel“, sagt die 25-Jährige. Wenn es mit dem Praktikum klappen sollte, will sie auf jeden Fall irgendwo in Stuttgart-Mitte oder -West wohnen. Vielleicht auch Süd oder Ost. Aber sicher nicht in Stammheim.