Statt direkt nach dem Abschluss eine Lehre oder ein Studium zu beginnen, nutzen G8-Absolventen wie Johannes Baumann die Zeit stärker für Übergangstätigkeiten, in denen sie nicht nur Geld verdienen, sondern auch Lebenserfahrung sammeln.

Stuttgart - Johannes Baumann kann das Freiwillige Soziale Jahr (FSJ) jedem nur empfehlen: „Du lernst, dich selbst zu orientieren und wirst dir bewusst, wie wichtig soziales Engagement für die Gesellschaft ist, egal ob im Krankenhaus, Pflegeheim oder Kindergarten.“ Im Jahr 2014 stand stand der heute 21-Jährige selbst vor der Wahl: Gleich nach dem G8-Abi am Friedrich-Schiller-Gymnasium in Pfullingen eine Ausbildung zu beginnen oder zu studieren – oder doch erst einmal etwas ganz anderes zu machen. Er entschied sich für Letzteres.

 

Als FSJler beim Jugendrotkreuz, dem er bereits als Elfjähriger angehörte, festigte Baumann dann auch die Vorstellungen von seiner beruflichen Zukunft. Auf Seminaren während des sozialen Jahres kam er mit Juristen in Kontakt, die seinen Plan, Jura zu studieren, bekräftigten. Heute studiert Baumann in Tübingen und arbeitet weiterhin ehrenamtlich. Er ist gerade zum stellvertretenden Landesleiter des Jugendrotkreuzes berufen worden. Eine hauptberufliche Rückkehr schließt er nicht aus: „Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten, zum Beispiel wenn ich mich auf Medizin- oder Sozialrecht spezialisiere.“

Forschungsinstitut befragt Gymnasiasten zu ihren Absichten

Beispiele wie dieses sind längst eher die Regel als die Ausnahme. Führt das von seinen Kritikern als „Turboabitur“ verspottete G8 also nicht zu einem schnelleren Einstieg in eine akademische oder eine berufliche Ausbildung? Die Ergebnisse einer Befragung unter Abiturienten der Abschlussklassen 2012, des doppelten Abiturjahrgangs von G8 und G9, lassen Zweifel zu: „Die Abiturienten, die eine auf acht Jahre verkürzte Gymnasialzeit absolviert haben, nehmen deutlich seltener ein Studium oder eine Berufsausbildung direkt im Anschluss an den Erwerb des Abiturs auf“, heißt es in der Auswertung des Studienberechtigtenpanels vom Deutschen Zentrum für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW). Das Forschungsinstitut befragt seit dem Jahr 1976 im zwei- bis dreijährigen Rhythmus Gymnasiasten zu ihren Ausbildungs- und Studienabsichten sowie zu den später getroffenen Entscheidungen und zum Verlauf ihres Bildungswegs.

Sehen Sie im Video wie ehemalige Abiturienten auf G8 und G9 zurückblicken.

Die jüngsten verfügbaren Untersuchungsergebnisse lassen Rückschlüsse auf Auswirkungen der G8-Reform in Baden-Württemberg zu: Während die Quote für den direkten Übergang in Studium oder Berufsausbildung unter G9-Abiturienten bei 68 Prozent lag, betrug sie bei G8-Absolventen lediglich 58 Prozent. Eine betriebliche oder schulische Berufsausbildung nahmen 10 Prozent (G8) beziehungsweise 8 Prozent (G9) auf. Dafür zog es Schulabgänger nach Klasse 12 mit 48 Prozent seltener sofort an die Unis und Fachhochschulen als die damaligen G9-Abiturienten (60 Prozent).

„Erst mal eine Pause machen“ – diese Antwort kam mit Abstand am häufigsten, als das DZHW von Abiturienten des 2012er-Jahrgangs wissen wollte, wieso sie ein halbes Jahr nach ihrem Abitur weder ein Studium noch eine Berufsausbildung aufgenommen hatten. Und G8-Abiturienten scheinen diese Pause häufiger nötig gehabt zu haben, als ihre Mitschüler aus Klasse 13: Mit 37 Prozent gab mehr als jeder Dritte an, zunächst einen Auslandsaufenthalt (Urlaub, Au-Pair) oder einen freiwilligen Dienst (soziales Jahr, Bufdi) zu absolvieren oder einen Nebenjob aufgenommen zu haben. Unter den G9ern lag der Anteil dagegen bei 27 Prozent. Die übrigen rund fünf Prozent der Befragten absolvierten Praktika oder einen freiwilligen Wehrdienst.

Viele Abiturienten sind unschlüssig über ihren Werdegang

Auslands- oder Lebenserfahrung zu sammeln, sind häufig genannte Argumente gegen eine direkte Weiterqualifikation. Zulassungsbeschränkung beim gewünschten Studienfach sowie der Wunsch, vor dem Studium noch Geld zu verdienen, sind weitere Gründe. Noch häufiger gaben Abiturienten allerdings an, unschlüssig über ihren künftigen Werdegang zu sein. Das ist insofern erstaunlich, als dass die Informationsmöglichkeiten über unterschiedliche akademische und berufliche Bildungswege heute vielfältiger denn je sind.

Arbeitgeber und Hochschulen buhlen um die Gunst der Absolventen. Berufsinformation an Gymnasien war bisher vor allem Studienberatung – Betriebspraktika dagegen eher etwas für Real- und Hauptschüler. Dieses Ungleichgewicht soll das neue Schulfach „Wirtschaft, Berufs- und Studienorientierung“ verringern, das künftig an allen weiterführenden allgemeinbildenden Schulen unterrichtet wird – bereits seit diesem Schuljahr von Klasse 7 an in Real-, Werkreal- und Gemeinschaftschulen sowie von Herbst 2018 an in Gymnasien ab Klasse 8. Der Unterricht soll die Schüler laut Landeskultusministerium befähigen, „mündige Wirtschaftsbürger“ zu werden und ihnen die Berufswahl erleichtern.

G8er wollen sich das Jahr zurückholen

Diesen Anspruch haben auch eine Reihe von Informationsveranstaltungen und Beratungsangebote, mit denen jungen Menschen vor allem gegen Ende ihrer Schullaufbahn konfrontiert sind. Susanne Kühn von Team „Akademische Berufe“ bei bei Arbeitsagentur Stuttgart berät seit vielen Jahren Gymnasiasten. Auch sie hat seit 2012 einen Trend zum Durchatmen bei G8ern wahrgenommen: „Viele sagen uns ganz offen: Das Jahr hole ich mir zurück.“

Kühn und ihre Kollegen raten diesen Abiturienten dazu, immer einen individuellen Plan mit ihrer Entscheidung zu binden: Das kann von der Erweiterung des Horizonts bis zu möglichen Vorteilen bei einem späteren Studium reichen. Die Berater stellen auch Kontakte zu Organisationen her, die auf die Unterstützung von Freiwilligen angewiesen sind.

Wovor Kühn junge Leute aber warnt, sind Institutionen, die vermeintlich soziale Projekte im Ausland einzig und allein dazu ins Leben rufen, um Geld mit der Vermittlung von Abiturienten zu verdienen.