Banken vor der Pleite, Staaten vor dem Bankrott: Die Krise, die 2007 begann, hat die EU und das Leben der Menschen verändert. Auch das der EU-Nachbarn. Unsere Serie beleuchtet den Alltag. Heute: Familie Reichmuth in der Schweiz.

Niederwil - Es knallen Schüsse hinterm Haus. Alle paar Minuten gehen Gewehrsalven ab. Für Familie Reichmuth, die hier draußen auf dem Land, in Niederwil, im Kanton Zug lebt, ist das aber kein Grund zur Beunruhigung. Denn geschossen wird nur im Schützenverein gegenüber. In der Schweiz müssen ja Armeeangehörige bekanntlich jedes Jahr mit dem Sturmgewehr ihre Zielfertigkeit unter Beweis stellen.

 

Familie Reichmuth sitzt entspannt um den Gartentisch. Sie ist gerade aus dem Urlaub zurückgekehrt – aus Frankreich. Denn auch hier im kleinen Kanton Zug spürt man natürlich das starke Preisgefälle zwischen dem Franken- und dem Euroraum – hervorgerufen durch die Aufgabe des Franken-Mindestkurses zum Euro durch die Schweizer Nationalbank. Im EU-Ausland ist dadurch vieles günstiger.

„Wir haben bei einem Abendessen im Elsass einmal rund 250 Euro für neun Personen ausgeben – inklusive Salat, Vorspeise und Dessert“, erzählt Pius Reichmuth. „In der Schweiz hätten wir sicher das Doppelte dafür bezahlt.“ Der 44-Jährige, der im Werkhof der Gemeinde Cham arbeitet, hat mit seiner Frau Sandra und seinen beiden Söhnen Fabian (14) und Remo (12) zusammen mit Freunden eine Bootstour auf einem Hausboot gemacht. Eine tolle Sache, wie sie finden.

Von günstigen Preisen im EU-Ausland profitieren die Schweizer

Sandra Reichmuth ist gelernte Drogistin und arbeitet derzeit in der Patientenadministration der Lungenliga. Die Lungenliga ist eine schweizerische Nonprofit-Organisation, die sich vor allem um Lungenkrankheiten und Atembehinderungen kümmert. Der 45-Jährigen hat der Urlaub auch sehr gefallen. Bevor die Familie zur Erholung im Elsass weilte, war sie noch eine Woche wandern im Montafon. Auch da, so haben sie festgestellt, war für sie alles günstiger als zuhause in der Schweiz.

„Wir konnten in Österreich mit einer Familienkarte für etwa 170 Franken alle Bergbahnen benutzen. Wenn wir hier in der Zentralschweiz nur einen Familienausflug auf den Berg Rigi machen, müssen wir schon 100 Franken bezahlen“, sagt die 45-Jährige. Und sie fügt hinzu, dass die Österreicher in ihren Tourismusgebieten viel freundlicher seien, als sie es von den Einheimischen in den Tourismusgebieten der Schweiz gewohnt sei. In Frankreich sind Sandra Reichmuth aber auch einige negative Dinge aufgefallen. „Also, so viele Bettler, wie wir in Straßburg gesehen haben, sind wir hier in der Schweiz nicht gewohnt“, sagt die Mittvierzigerin.

Steueroase zwischen Luzern und Zürich

Im Kanton Zug, der Steueroase zwischen Luzern und Zürich, sieht man auf den Straßen allenfalls ein paar armselige Straßenmusikanten aus Osteuropa, die auf ihren Akkordeons mehr schlecht als recht spielen und um eine milde Gabe bitten. Die Lebenshaltung ist aber nicht nur in Zug, sondern in der gesamten Schweiz so teuer geworden, dass sich inzwischen auch hier viele zur Decke strecken müssen.

Die Familie Reichmuth hat in dieser Hinsicht Glück: sie lebt einerseits auf dem Land und nicht in der teureren Stadt Zug. Andererseits können sie in der Hausmeisterwohnung des Schulhauses der Primarschule Niederwil wohnen. Diese idyllische Grundschule besuchen gerade mal 43 Schüler, auf sechs Klassen verteilt.

Sandra und Pius Reichmuth kümmern sich neben ihren Jobs noch darum, dass alles läuft und funktioniert im Schulhaus. Das ist praktisch. Denn der zwölfjährige Remo, der später einmal Zimmermann werden möchte, muss morgens nur zwei Stockwerke nach unten gehen, dann ist er in seinem Klassenzimmer. Der 14-jährige Fabian, der Bauzeichner werden möchte, besucht indes die fünf Kilometer entfernte Sekundarschule in Cham.

Für ihre Hausmeisterdienste in der Schule werden die Reichmuths von der Gemeinde Cham bezahlt. Die Wohnungsmiete ist daher auch nicht so hoch: Sie beträgt 1600 Franken (1417 Euro) pro Monat – für eine Wohnung in Durchschnittsgröße. Zum Vergleich: Insgesamt stehen der Familie 8000 Franken (7088 Euro ) brutto pro Monat zur Verfügung.

Manche Schweizer Firma ist in EU-Hand

Wäre es nicht insgesamt viel besser und vor allem viel günstiger für die Eidgenossen, wenn die Schweiz auch ein Mitglied der Europäischen Union werden würde? Schließlich wandert schon jetzt die Hälfte des Schweizer Exports in die EU. Viele Schweizer an den Grenzen kaufen längst im viel günstigeren europäischen Ausland Lebensmittel und Konsumgüter ein. Viele EU-Bürger leben und arbeiten in der Schweiz. Und auch so manche renommierte schweizerische Firma ist ja längst in EU-Hand – wie etwa die Fluglinie Swiss, die seit 2001 eine 100-prozentige Tochter der deutschen Lufthansa ist.

„Wir würden sicher nicht für einen EU-Beitritt stimmen“, stellt Pius Reichmuth klar. „Denn es geht uns ja sehr gut in der Schweiz. Und die Löhne sind ja hier auch höher als in der EU.“ Auch für Ehefrau Sandra wäre ein EU-Beitritt der Schweiz undenkbar: „Dann würde die Schweiz ja ihre Eigenständigkeit verlieren. Und andere würden dreinreden, was wir zu tun haben.“ Im EU-Ausland zu leben, könnten sich beide gar nicht vorstellen – schon allein wegen der Familie und all den Freunden und Bekannten. „Heimat ist für mich Schweiz“, sagt Pius Reichmuth.

Eine Meinung, mit der die Reichmuths nicht alleine stehen. Denn obwohl 1992 der Beitritt der Schweiz zum Europäischen Wirtschaftsraum von den Eidgenossen bei einer Volksabstimmung nur knapp abgelehnt wurde, hat das Pendel im Volk in den Jahren danach deutlich in Richtung Nicht-EU-Beitritt ausgeschlagen.

Schweizer Interessen stehen im Mittelpunkt

Das hat erstens mit dem rasanten Aufstieg der nationalkonservativen Partei der SVP unter Christoph Blocher nach 1992 zu tun. Diese fährt einen Kurs, der die Schweizer Interessen in den Mittelpunkt stellt. Zweitens hat die starke jährliche Zuwanderung Tausender EU-Ausländer in die Schweiz Sorgen um die nationale Identität unter den Eidgenossen hervorgerufen. Immerhin leben und arbeiten mittlerweile rund 300 000 Deutsche in der Schweiz. Und gut 20 Prozent der etwa 8,3 Millionen Menschen, die in der Schweiz leben, sind Ausländer. Zum Vergleich: In Deutschland ist unter den 82 Millionen Einwohnern nur knapp jeder zehnte ein Ausländer. Das Leben in der Schweiz ist trotz der hohen Lebenshaltungskosten eben oft noch sehr beschaulich – und es geht deutlich gemächlicher zu als im EU-Ausland. Das schätzen die Reichmuths sehr.

Fabian und Remo spielen in ihrer Freizeit Unihockey – das in der Schweiz sehr beliebt ist. Und Sandra und Pius Reichmuth gehen gerne auf Schwingfeste – das ist jener Volkssport in der Schweiz, bei dem zwei Männer im Sägemehl miteinander ringen. Aus der Sicht eines Laien so eine Art helvetische Sumo mit Alphorn-Flair. „Ich habe früher selbst geschwungen“, sagt Pius Reichmuth. „Uns gefällt das Volkstümliche. Das ist der Schweizer Nationalsport, dort gibt es keine Ausländer. Und es geht absolut friedlich zu, auch wenn 50 000 Menschen zuschauen.“

Umzug steht an

Im kommenden Jahr gibt es übrigens eine Ortsveränderung für die Reichmuths. Sie ziehen ins benachbarte Hagendorn – in eine Viereinhalb-Zimmer-Eigentumswohnung. Denn dann hat auch Remo die Primarschule abgeschlossen, und es würde für die Reichmuths keinen Sinn mehr machen, länger in der Schule wohnen zu bleiben.

Schon seit fünf Jahren gehört ihnen die Wohnung. Die Immobilie kostete damals rund 730 000 Franken (etwa 600 000 Euro). Bisher war die Wohnung vermietet. „Im März restauriere ich die Wohnung und baue sie etwas um“, erklärt Pius Reichmuth. „Dann ziehen wir ein. Wir freuen uns schon darauf. Einen Sitzplatz im Grünen hat es dort auch.“