Wir haben Stuttgarter getroffen und sie nach ihrem ganz persönlichen Rückblick auf das Corona-Jahr gefragt: Manche Krisen-Strategien ähneln sich, andere verblüffen. Aber Veränderungen brachte die Pandemie für jeden und jede – auch für Claudia Stilz.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-Mitte - Den Ernst der Lage hatten die Stilzens erst begriffen, als sie im März in Marrakesch festsaßen. Die meisten anderen Urlauber waren fluchtartig abgereist, Claudia Stilz und ihr Mann warteten noch auf die Möglichkeit zum Rückflug. Gemeinsam mit ein paar Anderen hofften sie darauf, dass sie heimreisen können, noch bevor ihr Hotel schließt und sie vor die Tür setzt. „Wir Übrigen sind da zu einer Art Notgemeinschaft geworden: drei Jungs aus Paris, die von einer langen Wüstentour zurückgekommen waren und noch nie von Corona gehört hatten, eine Irin, die ihre geplante Hochzeitsreise allein angetreten hatte, weil die Hochzeit geplatzt war, und wir beide aus Stuttgart“, berichtet Claudia Stilz. Man verbrachte die Abende gemeinsam im Hotel, besänftigte die Nervosität mit Rotwein und Galgenhumor. Vor die Tür konnte man kaum: „Die Marokkaner sind vor uns weggelaufen! Die hatten Angst, dass wir sie anstecken. Wir Europäer waren für sie die Virusüberträger.“

 

Heimliche Liebkosung

Das Ehepaar hat es schließlich nach Stuttgart geschafft, und am Flughafen wartete schon die nächste Überraschung: ihr Sohn. Er war nicht so ganz der alte. Plötzlich hatte er das Sagen, überwachte peinlich genau, ob die wegen ihres Alters gefährdeten Eltern auch brav alle Corona-Regeln befolgten und ermahnte sie fortwährend zur Vorsicht. „Das Eltern-Kind-Verhältnis hat sich umgedreht. Unsere Kinder waren auf einmal überbesorgt um uns und ängstlich“, erzählt Claudia Stilz, auch aufs Enkelchen hätte die Sorge abgefärbt: Einmal saust es auf die Oma zu, um kurz vor der Umarmung abrupt abzubremsen: „Oh, das dürfen wir ja gar nicht!“ Es kam schließlich doch zur Liebkosung, allerdings heimlich, nachdem sichergestellt war: „Der Papa schaut gerade nicht.“ In diesem Sommer, waren sie besonders dankbar für das Privileg, einen Garten zu haben.

Sie vermieden es, in öffentliche Verkehrsmittel zu steigen und in großen Supermärkten einzukaufen. „Auf diese Weise haben wir unsere Wohngegend besser kennengelernt. Wir sind zu Fuß mit dem Rucksack los wie die Jäger und Sammler, um das Quartier zu erkunden.“ Sie hätten bis dahin gar nicht gewusst, dass es so viele kleine Läden in der Nähe gibt, sagt Claudia Stilz. Sie liegen halt nicht auf der üblichen Umlaufbahn. Oft ergäben sich jetzt Gespräche beim Einkaufen. Auch mit der Nachbarschaft sei man jetzt viel vertrauter. Man achte aufeinander, helfe sich gegenseitig. „Einer zum Beispiel, fragte plötzlich, ob er uns was mitbringen soll, er fahre gerade zum Einkaufen.“

Lemuren zu Tisch

Bei aller Vorsicht: Freunde hat das Ehepaar weiterhin gern zum Essen da, und Claudia Stilz konnte ihre Ottolenghi-Kenntnisse vertiefen. Allerdings pflegen die Tischgesellschaften der Stilzens nun einen größerem Abstand: „Wir haben den Billardtisch umfunktioniert.“ Lemuren tanzen über die riesige Tafel unterm Kronleuchter. Die Äffchen sind auf das weiße Tischtuch gestickt – ein Souvenir aus Antananarivo, der Hauptstadt von Madagaskar. Solche Reisen sind in absehbarer Zeit nicht drin. „Auf Reisen, die dich fordern, vergisst du dich selbst. Und jetzt, während Corona, ist man so auf sich selbst zurückgeworfen.“ Weil Claudia Stilz aber nicht nur im eigenen Saft garen will, reist sie in die Geschichten von Büchern und sortiert die Fotos vergangener Reisen. Denn Gedankenreisen sind fast so wirksam wie echte Reisen. Das verdankt sich dem Carpenter-Effekt: Mitte des 19. Jahrhunderts wies der englische Arzt William B. Carpenter anhand von Dart-Spielern einen Zusammenhang zwischen Vorstellungen und körperlichen Reaktionen nach. Diese mussten sich einen Wurf bloß vorstellen, schon waren die dafür nötigen Muskeln aktiv.

Spontan zum Kaffee

Auch die Vergangenheit hat sich für Claudia Stilz als ein ergiebiges Reiseziel entpuppt. Die Zwanglosigkeit ihrer Studienzeit hat sich dabei als besonders erfreuliche Destination erwiesen, und sie an eine alte Praxis erinnert: Die Stilzens machen seit Neuestem wieder Spontanbesuche, und sie ermuntern – so es die jeweiligen Corona-Verordnungen zulassen – Freunde, auch bei ihnen ohne Vorwarnung einfach einzufallen – ganz wie in Jugendtagen. „Ein Stück Käse und Brot sind immer im Haus, die man auf den Tisch stellen kann.“ Es sei leider völlig aus der Mode geraten, spontan ohne Termin irgendwo aufzukreuzen, sagt Claudia Stilz. „Dabei sind Überraschungen so wunderbar: Da ist man dann halt mal hat nichts vorbereitet, ist ungeschminkt und muss seine Pläne über den Haufen schmeißen. Na und?“ Man ist geschmeichelt, gefordert und lebendig zugleich. Von Claudia Stilz erhält der Spontanbesuch jedenfalls das Prädikat „Kann man beibehalten“.