Wir haben Stuttgarter getroffen und sie nach ihrem ganz persönlichen Rückblick auf das Corona-Jahr gefragt: Manche Krisen-Strategien ähneln sich, andere verblüffen. Aber Veränderungen brachtedie Pandemie für jeden und jede – auch für Claus Stahl.

Aus den Stadtteilen: Kathrin Wesely (kay)

S-West - Es war ein sonderbares Jahr. Manche Berufsgruppen hat es an den Rand der Erschöpfung geführt, manche in den Ruin. Aber auch für alle übrigen barg es Herausforderungen. Wir haben Leute getroffen und sie nach ihrem ganz persönlichen Rückblick auf das Corona-Jahr gefragt: Manche Krisen-Strategien ähneln sich, andere verblüffen. Auf die leichte Schulter nahm es kaum einer.

 

Mann mit drei Leben

Im Nachhinein geniert es ihn. Dass er zu Fasching die Krankenschwestern mit den Corona-Bierflaschen noch witzig fand. Doch dann waren im Fernsehen die Bilder aus dem italienischen Bergamo zu sehen, mit den vielen Toten. Und obwohl Claus Stahl nicht um die eigene Gesundheit bangt, obgleich er dazu Grund hätte, nimmt er seither sehr ernst, was nun vor sich geht und erträgt die Corona-Auflagen ohne Murren. „Was ist das schon, eine Maske zu tragen?“ Keine echte Herausforderung für einen ehemaligen Ausbilder von Polizei-Spezialkommandos, für jemanden, der mindestens drei Leben haben muss. Trotzdem ist es erstaunlich, wie jemand mit Hummeln im Hintern, die ihn schon sein ganzes Leben lang herumscheuchen, nun in seiner Wohnung im Stuttgarter Westen seelenruhig die Corona-Krise aussitzt.

Stahl ist ein Rastloser, einer, dessen Gedanken immer von zwei bis drei neuen Ideen eskortiert werden und der nicht nur die Hände, sondern gleich den ganzen Körper braucht, um seinem Gegenüber mitzuteilen, was in seinem Kopf vorgeht. Dieser Mann also hockt jetzt tagein tagaus zuhause. Einkaufen geht seine Frau, die jünger ist, gesundheitlich nicht so angezählt und sich Sorgen um ihn macht.

Hektischer Typ

Claus Stahl selber sorgt sich gar nicht so sehr. „Ich bin mit 180 Sachen vom Motorrad gestürzt mit dem Kopf auf das Vorderrad von dem Auto, das mir hinten rein gefahren ist, und dann bin ich noch 100 Meter auf der Autobahn entlanggeschlittert.“ Bekanntlich hat Stahl überlebt und sein zweites Leben angetreten, in dem er beinahe einer Krebserkrankung erlag. Nun ist er in seinem dritten Leben angelangt. Aber die letzten Dinge hat er schon beim letzten Mal geregelt, sagt Stahl, richtig kalt könne es ihn nicht mehr erwischen. „Sollte ich jetzt Corona kriegen, dann bin ich nicht im Soll. Das, was ich alles gemacht habe in meinem Leben, passt gut zu meinem Alter. Es ist insgesamt eine sehr gute Bilanz. Trotzdem lasse ich bei Corona alle Sorgfalt walten. Denn für meine Familie wäre es schmerzhaft.“

Es ist jetzt aber nicht so, dass Stahl daheim am Küchentisch hockt und auf den Tod wartet. Nachdem soweit alles geklärt ist, schert sich Claus Stahl nunmehr nicht mehr ums Ableben, sondern schweißt, lötet und schraubt an Zukunftsplänen: den kommenden Traktorreisen nach Italien. Andere fliegen ja gern, weil sie schnell da sind oder nehmen den Bus oder das Auto. Claus Stahl aber fährt mit Eicher-Traktor samt Anhänger über die Alpen – manchmal bis Sizilien oder er nimmt die Fähre nach Sardinien. Hauptsache Italien, denn da leben seine Art- und Wesensverwandten, und kochen können die auch. Das sind Reisen, die sehr viel Zeit kosten. „Bei 18 Stundenkilometern komme ich innerlich runter. Ich bin ja so ein hektischer Typ. Aber nach drei Tagen auf dem Traktor sind dann endlich Kopf und Hintern in einer Achse. Da bin ich dann ganz bei mir.“ Es handelt sich um meditatives Treckerfahren, klar macht Claus Stahl das für sich allein. Aber er trifft Frau und Tochter dann unterwegs, gabelt sie auf an Flughäfen und Bahnhöfen, verbringt mit ihnen gemeinsame Urlaube und tuckert anschließend wieder allein weiter. „Ich bin meiner Familie wahnsinnig dankbar, dass sie das mitträgt und mir den Freiraum lässt.“

Tickernd entspannen

Eigentlich war dieses Jahr wieder eine große Ausfahrt ins gelobte Land geplant. Stattdessen bringt Stahl jetzt den alten Eicher, Baujahr 1954, auf Vordermann. Außerdem hat er sich einen neuen Anhänger gekauft, aus dem er sich einen Planwagen baut. „Wie im Wilden Westen. Muss aber stilistisch zum Eicher passen. Nicht so einfach!“ Und dann ist da noch der Kumpel mit der Biergarten-Kneipe, dem er handwerklich zur Hand geht, wann immer er gebraucht wird. Sein Renault Kastenwagen unten an der Straße sei so eine Art rollende Werkstatt. „Da habe ich wirklich alles drin und immer dabei.“ Es geht auch darum, sich abzulenken. Vieles, was derzeit unter dem Zeichen der Pandemie geschieht, ekelt den Polizeibeamten im Ruhestand regelrecht an: Die „Lautsprecher“, die nun ungeniert ihre rechte Gesinnung in die Welt posaunen, die Politiker, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, „die die Situation ausnutzen, um Dinge durchzusetzen, die sie unter normalen Bedingungen nie hätten durchsetzen können“. Vor allem aber schaudere es ihn vor den Heuchlern, die sich jetzt hervortäten: Schon vor Corona seien die Leute im Altersheim vereinsamt, sagt Stahl. „Jetzt wollen plötzlich alle hin, als sei es das vornehmste Bedürfnis, dreimal die Woche im Altenheim zu hocken. Geht es da tatsächlich um Oma? Oder geht es darum, dass man alles machen kann, was man will?“ In der Krise, so sieht es Stahl, haben die Menschen nicht bloß ihre feinen Charakterzüge wie Hilfsbereitschaft und Solidarität herausgekehrt.