Vor 200 Jahren haben die Brüder Grimm den Anfang gemacht. Doch fabuliert wird noch heute, wie wir zwischen den Jahren zeigen wollen. Zur Festzeit etwa sind die Theater – wie beispielsweise das Stuttgarter Staatstheater – voller Menschen. Sie erhoffen sich dort Stunden wie im Märchen. Zu recht.

Kultur: Tim Schleider (schl)

Stuttgart - Warum gehen die Menschen ausgerechnet zur Advents- und Weihnachtszeit so gerne ins Theater? Nicht nur die Buchhändler machen im Dezember ihren Hauptumsatz, nicht nur in den Konzertsälen ertönt gerade eine Sinfonie nach der anderen, nicht nur die Gastronomen brutzeln und servieren derzeit die Festmenüs im Akkord. Auch auf den Bühnen herrscht Hochbetrieb. Mit gut gefüllten Mägen strömt das Publikum ins Parkett und auf die Ränge, um den Geist an Oper, Schauspiel und Ballett zu laben. Auch kleine Häuser können sich über mangelnde Nachfrage nicht beklagen.

 

Im Übrigen nehmen fast alle Theater Rücksicht auf die festliche Grundstimmung dieser Tage. Die Stuttgarter Staatsoper bietet gleich zweimal Mozart, „Die Zauberflöte“ und „Don Giovanni“, das Ballett tanzte am zweiten Feiertag den opulenten „Don Quijote“ nachmittags und abends, und selbst im politisch engagierten Schauspiel war man mit der „Schneekönigin“ vergleichsweise milde gestimmt. Und wenn auch sonst im Regietheater Blut und Sperma fließen (mit den Mitteln von Maske und Requisite, versteht sich), zu Weihnachten sollen es Milch und Honig sein. Das ganze Weihnachtsfest hätten wir ja bekanntlich am liebsten wie im Märchen, Jahr um Jahr. Drum sei es auch im Theater bitte gerade märchenhaft.

Das alles sei hier ohne einen klagenden Mucks vorgetragen. Man kann eine Theaterbühne bestimmt auch als Ort der Debatte, des Diskurses, der zugespitzten Auseinandersetzung, der Aufklärung, der Anklage, der Aufrüttelung, der Agitation, der Entlarvung oder der Revolution sehen. Man kann die Tatsache, dass in Deutschland die öffentliche Hand ansehnliche Finanzbeträge zur Verfügung stellt, um ihre Theater zu unterhalten, als Verpflichtung begreifen, dass dort in allererster Linie die gerade umrissenen gesellschaftlich relevanten Dinge geschehen. Aber vergesse bitte niemand, dass eine Theaterbühne auch ein Ort der Magie ist, vielleicht sogar vom Wesen her. Und wie alle Orte der Magie darum in gewissem Sinne auch von märchenhafter Qualität.

Die Bühne als Ort der Magie

Auf diese Idee muss man ja erst mal kommen: dass Menschen zu einer bestimmten Zeit zusammenströmen, sich in einem Saal versammeln, das Schließen aller Türen als ebenso notwendig hinnehmen wie das Verlöschen des Lichtes – um dann im Kollektiv ein, zwei oder gar drei Stunden weitgehend stumm die Darbietungen auf einer Bühne zu verfolgen. Zum märchenhaften Charakter dieser Unternehmung gehört natürlich auch unbedingt der schwere Vorhang, der am Anfang den Blick auf diese Bühne verhindert, sich dann nach Verlöschen des Lichtes aber vornehm und wie von Geisterhand nach links und rechts bewegt oder nach oben öffnet – und so die Perspektive freigibt auf eine andere, eine eigene Welt, in der eigene Gesetze gelten, eigene Geschichten passieren, gesprochen, gesungen oder gar getanzt wird.

Nebenbei: dass im schon erwähnten aktuellen Diskurstheater auf den Vorhang so gern verzichtet wird, sieht der Zuschauer zwar in seiner dramaturgischen Notwendigkeit häufig ein, um es aber insgeheim dann doch fast immer zu bedauern. Wenn man als Zuschauer in ein Theater kommt, in dem der Vorhang gleich offen steht und den Blick frei gibt auf ein wie auch immer geartetes karges Etwas, dann weiß man gleich: ohne harte Arbeit kommen wir heut’ nicht mehr heim.

Dabei soll Theater, ein weiteres Merkmal seiner Märchenhaftigkeit, ja gerade nicht wie Arbeit wirken. Obwohl wir wissen, dass Schauspiel, Gesang oder Tanz harte körperliche Arbeit sind, tut das Theater, wenn es Theater spielt, so, als wäre all das ein Klacks. Dass Schauspieler Morddrohungen ausstoßen, Tenöre große Arien singen oder im Ballett ein Sprung auf den anderen folgt – es wirkt auf uns völlig selbstverständlich, als hätten die Darsteller auf der Bühne gerade wirklich nichts Besseres, Sinnvolleres zu tun. Und paradoxerweise ist ein Theaterabend gerade dann besonders gelungen, wenn wir in seinem Verlauf völlig vergessen, im Theater zu sein. So wie wir auch gar nicht mehr darüber nachdenken, dass dort auf der Bühne Künstler agieren, sondern die so konstruierte Welt tatsächlich für die Dauer der Vorstellung zur einzig wahren wird wie in einem Märchen.

Theaterkunst nach eigenen magischen Regeln

Nehmen wir als Beispiel das Ballett. Es gibt wohl nichts Künstlicheres als den klassischen Tanz. Bewegung, Gestik, Mimik, Kleidung – an und für sich genommen ist hier alles urkomisch und bietet ja darum für Parodien äußerst dankbares Material. Und die Vorstellung, womöglich eine große Geschichte wie „Schwanensee“, „Romeo und Julia“ oder „Othello“ ganz ohne Worte und nur mit Bewegungen erzählen zu wollen, ist eigentlich bizarr. Warum um Himmels willen auf Worte freiwillig verzichten, da sie das ganze Unternehmen doch zweifellos erleichtern würden? Aber wenn solch ein Ballett erstmals begonnen hat und wenn es gut ist, dann sind all diese Einwände in Sekundenschnelle obsolet, dann funktioniert die Theaterkunst nach eigenen magischen Regeln. Theater ist nicht nur, was es ist, sondern auch, weil es ist.

Natürlich, modern sind all diese Auffassungen dezidiert nicht. Wir glauben gern, dass in den Studiengängen Dramaturgie, Regie, Grundsatz und Perspektiven und auf den einschlägigen Akademien seit Jahr und Tag ganz andere Konzeptionen innovativer, multimedialer, senso-reflexiver, partizipatorischer Theaterpraxis entwickelt und gelehrt werden. Das ist zweifellos auch alles nötig, wir leben ja schließlich nicht mehr in der Antike. Aber bei unserer Behauptung bleiben wir dennoch: Dass überhaupt Menschen gern ins Theater gehen, dass sie sich dort dann womöglich auch anspruchsvollen ästhetischen Experimenten aussetzen und in Diskurse verstricken, all das kann nur geschehen, wenn sie zunächst einmal irgendwann das Theater als Ort der Magie kennengelernt haben, eine im Grunde ganz märchenhafte Vorstellung von zweiter Welt, um ihr sodann für den Rest des Lebens und allen unausweichlichen künftigen Enttäuschungen zum Trotz rettungslos zu verfallen.

Und man ahnt, wann der Grundstock, die Basis für ein solches Dem-Theater-verfallen-Sein, in aller Welt gelegt werden muss: früh, wenn man besonders empfänglich ist für Grundlegendes. Ein Loblied darum allen Kinder- und Weihnachtsstücken dieser Welt. Oder zu festlichen Zeiten, wenn man ohnehin gerade Sinn hat für die Dinge jenseits des Alltags. Darum verachte niemand die mehr oder weniger feierlich gestimmten Spielpläne unserer Theater in diesen Tagen, die Weihnachtsmärchen, Opern- und Ballettgalas landauf, landab. Hier wird gerade an den Grundlagen gearbeitet – für die Jahresbilanzen der Bühnen und für ein Publikum, das nie vergehe und stets aufs Neue wachse. Darum lasst Schwäne rauschen. Die Debatte folgt nach.