Beflügelt von der traumhaften Stimmung in Oberstdorf gewinnt der Mitfavorit Severin Freund bei der Vierschanzentournee das Auftaktspringen. Der Bayer hofft nun auf den Gesamtsieg.

Sport: Dominik Ignée (doi)

Oberstdorf - Der Auftakt der Vierschanzentournee in Oberstdorf hat sich im Sportkalender längst als ganz besonderes Spektakel etabliert. 25 500 Zuschauer bedeuten ein volles Haus, viele Fans sind ausgestattet mit Perücken und Kriegsbemalung in den deutschen Farben. Während Glühweinduft im Stadion der Schattenbergschanze vorherrscht, zeigt sich auch der Stuttgarter Stadionsprecher Jens Zimmermann in Bestform: „Oberstdorf, zeig dein schönes Gesicht!“, ruft er den Menschenmassen zu – und die Skisprung-Enthusiasten, sie brüllen zurück.

 

Offenbar beflügelt von dieser traumhaften Stimmung, die den Stromausfall vom Vortag und die Schneearmut schnell vergessen ließ, zeigte auch der Bayer Severin Freund sein schönstes Gesicht. Er lächelte überglücklich, während ihm der Teamkollege Richard Freitag fast die Mütze vom Kopf riss. Was war passiert? Freund gewann den Auftakt der Vierschanzentournee vor dem Österreicher Michael Hayböck und dem Slowenen Peter Prevc. Was für ein Auftakt! Welch wunderbare Geschichte vor großer Kulisse. Es war Severin Freunds 21. Weltcupsieg, und für die Fans endlich mal wieder ein Grund, in Oberstdorf mit den deutschen Fahnen zu wedeln. Der letzte deutsche Tournee-Start-Sieger war Sven Hannawald – und das ist 13 Jahre her.

Severin Freund winkte auf die Ränge, dann ging er hinüber zu seiner komplett angetretenen Familie und holte sich dort die Glückwünsche ab. „Ich freue mich wahnsinnig, aber es ist erst ein kleiner Teil der Tournee“, sprach er und gab sich also angesichts der drei noch ausstehenden Springen in Garmisch-Partenkirchen, Innsbruck und Bischofshofen zugleich bescheiden. Noch ist nichts entschieden, er musste sich das im ersten Moment offenbar klar machen, um nicht in Träumereien zu verfallen. Denn ein bisserl kurios ging es in Oberstdorf schon zu.

Dieser Erfolg war schließlich auch auf die turbulente Schlussphase des zweiten Durchgangs zurückzuführen. „Mein zweiter Sprung war mit 137,5 Metern sicher sehr gut, aber am Ende ist es hektisch geworden, weil die Bedingungen gewechselt haben“, sagte der Sieger. Die Topspringer mussten auf der Schanze immer wieder von unterschiedlichen Starthöhen losfahren, weil der Wind alles andere war als konstant. „Das verzerrt es etwas“, so Freund, dementsprechend müsse man das Ergebnis jetzt auch nicht so hundertprozentig sehen.

Freund springt zu spät ab

Im ersten Durchgang noch hatte der Deutsche in dem mit Spannung erwarteten Duell gegen den Slowenen Prevc das Nachsehen. Der Slowene war Erster, der Mann aus Bayern Fünfter. Er war bei für beide etwa gleichen Windbedingungen mit 129 Metern dreieinhalb Meter kürzer gesprungen als der Widersacher. Freund war zu spät abgesprungen, das realisierte auch der Bundestrainer Wolfgang Schuster. „Aber sie sind eng beisammen“, schöpfte der Coach doch noch Hoffnung für den zweiten Durchgang, bei dem Richard Freitag als zweitbester DSV-Adler auf Platz neun sprang.

Bei der Tournee vorne dabei zu sein, es ist nicht planbar. Keiner weiß das besser als Severin Freund, der beim Saisonhöhepunkt schon Tiefpunkte erleben musste und den Erwartungen an seine Person nicht gerecht wurde. „Hier kann man nichts antizipieren, in unserem Sport gibt es keine Sicherheiten“, weiß der Skispringer, der mit zwei Saisonsiegen und als Zweiter des Gesamtweltcups stark in den Winter startete. Deshalb wurde der für den WSV Rastbüchl startende Athlet selten so in die Favoritenrolle gehievt wie vor dieser Tournee. Freund oder Prevc, vielleicht noch der Österreicher Stefan Kraft – Buchmacher und Experten waren sich einig, dass möglicherweise nur eine dieser Figuren für den Gesamtsieg in Frage kommt. Severin Freund hat die enorme Erwartungshaltung mit seiner bayerisch-lässigen Art aber ausgeblendet – und das mit großem Erfolg.

Der zweite Akt der Vierschanzentournee findet an Neujahr in Garmisch-Partenkirchen statt. Was diese Veranstaltung angeht, ist der Frontmann deutscher Springkunst nicht unbedingt optimistisch. „Die Schanze in Garmisch ist für mich der Knackpunkt. Da ist es für mich wichtig, schon am ersten Trainingstag voll da zu sein“, sagt Freund und macht kein Geheimnis daraus, dass ihm die zweite Tournee-Station nicht so liegt: „In Oberstdorf bin ich schon 100-mal gesprungen, in Garmisch deutlich weniger.“ Dort hat Severin Freund den Dreh wohl noch nicht so raus.

Hoffnung auf Besserung macht allerdings seine derzeit erstaunlich gute Form. Und so ein Auftaktsieg in Oberstdorf kann möglicherweise noch mehr Flügel verleihen als das Gebrüll der Fans.