In dieser Woche jährt sich die Reichspogromnacht zum 80. Mal. Ein Schwabe saß im Auge des Orkans, wie unsere Kolumnistin Sibylle Krause-Burger zu berichten weiß.

Stuttgart - Adieu schwäbische Welt, adieu Freunde, adieu geliebtes Ludwigsburg, wo der Vater den Posten eines angesehenen Oberamtsmannes ausfüllte, jetzt aber höhere Aufgaben in der Reichshauptstadt wahrnehmen sollte. Also ab nach Berlin, in die Verwaltung der jungen Weimarer Republik. Es war ein Kulturschock für die brav-provinzielle Familie und insbesondere den zweiten Sohn – eines von vier Kindern. Der Vierzehnjährige tat sich anfangs schwer. Es sollte schlimmer kommen.

 

Zunächst begann er aber doch das neue Leben staunend und bewundernd wahrzunehmen, sich auch von den Horizonten, die sich auftaten, faszinieren zu lassen. Großstadt! Aufbruch! Theater! Man wohnte nicht mehr im Grünen, sondern in einem Mietshaus zusammen mit anderen Familien, ging in Ausstellungen, welche die Bilder der Expressionisten zeigten. Und natürlich fand er auch bald neue Freunde.

Jenen Hans, zum Beispiel, der das gleiche Gymnasium besuchte wie er und der mit seinen Eltern und Geschwistern eine Etage tiefer wohnte. Es wurde eine ganz dicke Freundschaft daraus, und dies umso mehr, als dem schwäbischen Teenager, der im Übrigen ein verdammt hübscher Kerl war, die Schwester seines Freundes nicht nur gefiel, sondern gewissermaßen zu Herzen ging. Mit siebzehn wusste er schon, dass er sie eines Tages heiraten würde. Das tat er dann auch, kaum dass er volljährig war.

Wie die Kristallnacht das Leben veränderte

Trotzdem gestaltete sich die Sache nicht ganz einfach. Denn der Bräutigam stammte aus einem – zumindest, was die Mutter anging – sehr pietistischen Haus. Die Familie der Braut aber gehörte zu den assimilierten, intellektuellen, weltoffenen Juden Berlins. Da konnte man zwar gut miteinander auskommen und bei der Begegnung auf der Treppe „Grüß Gott“ und „Guten Tag“ sagen. Aber heiraten? Nein, heiraten tat man so etwas nicht, und eine fromme Besucherin aus Tübingen befand, das jüdische Mädchen wäre doch „au a nett’s Chrischtefraule worde“. Also gab es entschiedenen Widerstand. Vergeblich.

Und als das erste Enkelkind geboren wurde, schauten es die Großeltern drei Jahre lang nicht an. Es herrschten ja die Zeiten des Rassenwahns, und wer weiß, was für ein missratenes Balg einen da angekräht hätte. Als man schließlich doch einen Blick auf den armen Wurm warf, war das Erstaunen groß, dass dieses Kind weder eine Hakennase noch pechschwarzes Haar oder gar den bösen Blick hatte. Oh nein, es war blond, ganz herzig und blauäugig. Konnte der „Führer“ sich so irren?

Das alles geschah im Sommer 1938. Unser Ludwigsburger, inzwischen erwachsen, war ein Unternehmer und ziemlich schwäbisch gebliebener Berliner geworden. In seinem Betrieb in der Markgrafenstraße, wo auch andere Konfektionsfirmen ihren Sitz hatten, ließ er junge Mode herstellen. Er ernährte die kleine Familie, mehr nicht. Den Nazis war auch das schon zu viel. Weil er mit einer jüdischen Frau verheiratet war und sich nicht scheiden ließ, entzogen sie ihm schließlich die Betriebserlaubnis. Bis das vollends amtlich auf seinem Schreibtisch lag, hatte er zwar noch Hoffnung, fürchtete aber trotzdem, sich auf einer schwarzen Liste wiederzufinden.

So standen die Dinge auch noch am Abend des 9. November 1938, als die sogenannte Kristallnacht begann und die herrschenden Barbaren den Firnis der Zivilisation zum ersten Mal für die ganze Welt sichtbar vom Antlitz Deutschlands rissen. Unser Ludwigsburger beschloss, in seinem „Kontor“ zu bleiben, um Eindringlinge durch Vorzeigen seiner Unterlagen zur Umkehr zu zwingen.

Der Ludwigsburger und sein Plan auszuwandern

Was für eine rührende Überlegung! Draußen tobte der Mob, von Staats wegen aufgestachelt, zum Morden, Brandschatzen, Plündern ermuntert. Und dieser sanfte Mann, mehr Künstler als Kaufmann, hoffte auf die Wirkung eines Papiers! Dabei konnte er bald sehen, was sich tat, und natürlich hatte er fürchterliche Angst. Vor seinem Bürofenster staute sich eine unübersehbare Menschenmenge, die alle Straßen verstopfte, im Zaum gehalten durch einen Polizei-Kordon, der dem Treiben „teils johlend, zum großen Teil aber stumm“ zusah, wie er später aufschrieb. Es war ein „brodelnder Hexenkessel“. Die Berserker warfen Clubsessel, Stoffballen, Schreibmaschinen, ganze Büroeinrichtungen durch die Fenster auf die Straße. Wie durch ein Wunder wurde unser Jungunternehmer verschont. Übersehen. Oder vergessen. Als er sich spätabends nach Hause traute, brach er zusammen: „Ich weinte wie ein Kind.“

1945, als alles vorüber war, schaute er auf die Schreckensnacht zurück, in der auch die Wehrmacht wie fast alle anderen Institutionen „diesen Schritt in die Niederungen menschlicher Abscheulichkeit und nationaler Schande mitgemacht hatten“, und er war sich sicher, „dass unter diesem Gesindel keine Lebensmöglichkeit für uns sei“. Also lernte er eifrig Portugiesisch, um nach Brasilien auszuwandern, zu seinem geliebten Schwager und Jugendfreund.

Er hat sich schließlich doch eines anderen besonnen und dem demokratischen Deutschland vertraut. Auch für diesen Mut bin ich meinem Vater auf ewig dankbar.