Seit neun Monaten ist Siemens-Chef Joe Kaeser im Amt. In der kommenden Woche will er mit seiner neuen Strategie punkten – und den Kampf um Alstom gewinnen.

München - Es ist der 31. Juli 2013: Joe Kaeser, der 33 Jahre zuvor als Josef Käser bei Siemens angefangen hat, steht im Hof der Münchner Konzernzentrale vor einer Hundertschaft Journalisten und Dutzenden Kameras. Er blinzelt auffällig, und man weiß nicht genau, ob das an einfallenden Sonnenstrahlen liegt oder an geweckten Emotionen. Der Aufsichtsrat hat den 56-jährigen gerade unter turbulenten Umständen zum neuen Konzernchef gemacht. Die Spitze der Siemens-Hierarchie ist erklommen, aber Triumphgeheul ist dem Mann fremd. Der neue Ober-Siemensianer wählt seine Worte mit Bedacht und sagt unter anderem diesen Satz: „Siemens ist eine Elektrifizierungsfirma.“ Das klingt antiquiert. Aber es ist die Sprache von Siemens. Danach lechzen die Siemensianer nach Jahren unter dem Kaeser-Vorgänger Peter Löscher, einem Manager, der ganz ohne Stallgeruch Vorstandsvorsitzender geworden war. Die Beschäftigten verlangen nach einem wie Kaeser. Einem, dem man Siemens nicht erklären muss. Einem, der Siemens lebt.

 

Disziplin ist für Kaeser sehr wichtig

Kaeser weiß, wo der Schuh drückt. Ruhe ist die erste Siemens-Pflicht, sagt er mit Blick auf die intrigante Zeit vor dem Löscher-Rauswurf. Als Nachfolger predigt er vor allem auch Disziplin. Ein Appell an eine urdeutsche Tugend, mit der Kaeser ein Wir-Gefühl erzeugen will. Der gebürtige Niederbayer muss die in Unordnung geratenen Reihen schließen, und es sieht ganz so aus, als habe er das Zeug dazu.

Neun Monate nach seiner Ernennung ist der Manager aus dem Dorf Arnbruck im Bayerischen Wald, der nach wie vor in der Heimat wohnt, mit seiner Vision einer Elektrifizierungsfirma an einem entscheidenden Punkt angekommen. Viel Vorschusslorbeeren hat er in den zurückliegenden Monaten geerntet, intern auf den Fluren im Siemens-Hauptquartier in München ebenso wie extern an den Finanzmärkten. Kaeser verkörpert die Wende zum Besseren – bislang allerdings nur als Person; Inhalte fehlen. In der kommenden Woche steht nun die Nagelprobe an. Dann will Kaeser seine neue Konzernstrategie verkünden.

Wie FC Bayern gegen Borussia Dortmund

Ausgerechnet in dieser Schlüsselsituation beginnt sich ein Schatten über Siemens und seinen Lenker zu schieben. General Electric (GE) wirbt um Alstom. Der ewige US-Rivale will den französischen Konkurrenten kaufen und Siemens damit am europäischen Markt in die Defensive zwingen. Gelingt das, würde ein Großteil der gerade spürbar gewordenen Aufbruchstimmung verpuffen und die Ära Kaeser stünde unter einem unguten Stern.

Um die Bedeutung des Duells mit GE zu verstehen, muss man etwas über die Rivalität zwischen den beiden Weltkonzernen wissen. Wären sie Fußballvereine, käme sie der Konkurrenz zwischen dem FC Bayern und Borussia Dortmund oder der zwischen Real Madrid und dem FC Barcelona gleich. Zugleich steht Alstom seit mehr als einem Jahrzehnt schier unerreichbar auf der Wunschliste diverser Siemens-Chefs. In dieser Konstellation gibt es keine kleinen Siege oder Niederlagen. Es geht um Triumpf oder Debakel.

Für Symbolprojekte ist die Regierung stets zu haben

Seit Managergenerationen ist GE das selten erreichte Vorbild von Siemens. Aktuell hinken die Bayern im Hinblick auf die Profitabilität deutlich hinter dem US-Riesen hinterher. Kaeser braucht ein positives Momentum, um die Schwächen und Unsicherheiten aus der Löscher-Ära zu überwinden. Sein Plan klingt elektrisierend. Kaeser will das eigene margenschwache Bahngeschäft gegen das margenstärkere Energiegeschäft von Alstom tauschen. Nicht nur Kaeser sieht im Siemens-Hochgeschwindigkeitszug ICE ein hartnäckiges Sorgenkind, das man jetzt auf elegante Weise mit einem strategischen Gewinn loswerden könnte.

Der Siemens-Chef ködert dabei gezielt die französische Politik mit der Vision eines europäischen Zugchampions, unter dessen Dach dann der französische Hochgeschwindigkeitszug TGV und dessen deutscher Dauerrivale ICE fahren würden. Frankreichs Regierende sind für derart prestigebeladene Symbolprojeke empfänglich, und Kaeser weiß diese politische Karte zu spielen. Zieht er Alstom für Siemens an Land, könnte sich das in einigen Jahren im Rückblick einmal als Initialzündung erweisen. Oder im anderen Fall als der Moment, in dem die Selbstzweifel eines Konzerns mit seinen weltweit 370 000 Beschäftigten wieder verstärkt aufgeflammt sind.

Die Einteilung in vier Sektoren ist überholt

Das ist dem Siemens-Eigengewächs und Elektrifizierer Kaeser nur allzu bewusst. Er hat sein Haus in den letzten Monaten mühsam befriedet und Wogen geglättet; er hat die im Konzern traditionell mächtige IG Metall nach einigen Irritationen hinter sich gebracht und im Geheimen eine neue Strategie vorbereitet. Bereits zur Aufsichtsratssitzung am kommenden Dienstag wird sich ein Teil davon klären, einen Tag später erläutert Kaeser seine Pläne dann zur Vorlage der Halbjahresbilanz. Bei ihrer Sitzung dürften die Siemens-Aufseher auch den Kauf des Gasturbinen- und Kompressorengeschäfts von Europas größtem Flugzeugtriebwerkhersteller Rolls-Royce absegnen. Beide Unternehmen hatten bereits entsprechende Gespräche bestätigt. Der Schritt wäre ein Baustein in Kaesers Strategie, Siemens in vielversprechenden Geschäftsfeldern zu verstärken. Gut eine Milliarde britische Pfund (knapp 1,3 Milliarden Euro) Jahresumsatz macht die Rolls-Royce-Energiesparte – allerdings ist dabei auch das Nukleargeschäft eingerechnet, an dem Siemens kein Interesse hat.

Die Sektoren Energie, Industrie, Medizintechnik sowie Infrastruktur und Städte werden neu geordnet, womöglich wird die Unterteilung des Konzerns in die vier Bereiche sogar abgeschafft. Auch die Zahl der 16 Siemens-Divisionen dürfte schrumpfen, heißt es in Konzernkreisen. Von Stellenabbau ist ebenso die Rede wie dem Aus für eine komplette Managementebene.

Die IG Metall verzichtet auf schrille Töne

Von möglicherweise Tausenden betroffenen Jobs war zuletzt in Medienberichten die Rede. Siemens will sich dazu nicht äußern. Erst im Zuge des Sparprogramms Siemens 2014 hatten die Münchner Tausende Stellen gestrichen. Die IG Metall schaut deshalb genau hin: Man stelle sich nicht generell gegen Veränderungen, im Gegenteil, sagt ein Gewerkschaftssprecher: „Wenn Siemens besser aufgestellt wird, ist das ja grundsätzlich auch im Sinne der Arbeitnehmer.“ Veränderungen dürften aber nicht auf kurzfristige Kostensenkungen abzielen, „sondern müssen die langfristig nachhaltige Entwicklung im Blick haben, und zwar in jeder Hinsicht – wirtschaftlich, technologisch, ökologisch und natürlich auch sozial“.

Insgesamt sind bisher kaum Einzelheiten über die Pläne des Chefs durchgesickert. Das ist neu für den Konzern. Früher wurde bei solcher Gelegenheit oft etwas von Unzufriedenen durchgestochen. Unter Kaeser halten alle weitgehend dicht. Es geht um viel, und nichts ist bei Siemens wichtiger als Siemens, hat Kaeser damals im Sommer 2013 im sonnigen Innenhof der Konzernzentrale gesagt. Er zieht das strikt durch, so wie jüngst beim heftig kritisierten Treffen mit dem russischen Staatspräsidenten. Wladimir Putin wurde von Kaeser hofiert, ungeachtet aller Sanktionen des Westens gegenüber Russland. Die Annexion der Krim hat Kaeser später im Fernsehen als „kurzfristige Turbulenz“ verniedlicht, wohl wissend um das kritische Echo. Aber Russland ist für Siemens ein wichtiger Markt, und für Kaeser gibt es eben nichts Wichtigeres als den Konzern.

In Arnbruck erdet sich der Chef

Kaeser führt konsequent und glaubhaft. Er gibt sich dabei als Teamplayer und betont zugleich, dass Unternehmen nun einmal keine basisdemokratischen Veranstaltungen seien. „Er ist authentisch und macht, woran er glaubt“, beschwört man in seinem Umfeld. Andere attestieren ihm einen verlässlichen Instinkt. Bei öffentlichen Auftritten erlebt man Kaeser als eloquenten Wirtschaftsführer, der aber stets die Bodenhaftung behält. Analysten schätzen sein Detailwissen.

Angefangen hat der damals 23-jährige 1980 bei Siemens als kaufmännischer Leiter im längst abgegebenen Bereich Bauelemente. Kaeser war für die Münchner in Malaysia und den USA. Dort ist aus dem Josef ein Joe geworden und aus dem Käser ein Kaeser. Das sieht auf den ersten Blick wie eine spleenige Verirrung aus. Aber sich selbst ist der Josef aus Arnbruck, der über einen feinen niederbayerischen Humor und einen dezenten Akzent verfügt, stets treu geblieben – später als Bereichsvorstand, dann als Strategiechef, ab 2006 als Finanzvorstand und auch nun als Ober-Siemensianer, bestätigen Weggefährten aller Zeiten.

Praktisch jedes Wochenende verbringt der Vater zweier erwachsener Töchter zu Hause im Bayerischen Wald, wo auch sein Bruder lebt, im privaten Umfeld unter alten Freunden. Dort kann er sich erden. Dort, in der Postkartenidylle von Arnbruck, wo Joe noch als Sepp gilt, schätzt man ihn als bodenständig und loyal. Ein Image, das er ins 180 Kilometer entfernte München in die Siemens-Zentrale zu transportieren weiß. Nun nähern sich die Tage der Symbolik aber dem Ende. Es müssen Taten folgen und Erfolge beim Projekt Konzernumbau ebenso wie im Fall Alstom. Kaeser und Siemens stehen vor wegweisenden Bewährungsproben.