Angst hilft nicht weiter

 

Dem Hype der Willkommenskultur des vergangenen Sommers folgte pünktlich zu Beginn des neuen Jahres der Kulturschock nach den sexuellen Übegriffen durch junge Araber und Nordafrikaner in der Silvesternacht. Angst vor dem „arabischen Sex-Mob“ macht sich breit. Doch weder die Euphorie des vergangenen Jahres noch die Angstdebatte, die teilweise zu rassistischen Tiraden verkommt, helfen bei der Bewältigung der gewaltigen Herausforderung, mehr als ein Million Flüchtlinge zu integrieren.

Wohltuend sind da Pragmatiker wie die Pädagogen des Waldhauses in Hildrizhausen. Euphorisch sind sie nie gewesen. Dass es nicht einfach ist, junge Männer aus dem arabischen Kulturkreis in Deutschland zu integrieren, ist ihnen längst bewusst. Deshalb haben sie bereits im vergangenen Jahr nicht nur auf den Zustrom minderjähriger Flüchtlinge reagiert und ständig neue Wohngruppen eingerichtet, sondern auch ein Konzept entwickelt, damit die jungen Leute möglichst schnell in unserer Gesellschaft Fuß fassen.

Dazu gehört ein strukturierter Tagesablauf, damit die jungen Männer erst gar nicht auf dumme Gedanken kommen. Deshalb warten die Waldhauspädagogen auch nicht darauf, dass in den überfüllten öffentlichen Integrationsklassen Plätze frei werden, sondern richten eben eigene ein. Die Probleme junger Araber und Afghanen mit Frauen gehen sie konkret an mit Kulturvermittlern, die einen ähnlichen Hintergrund haben.

Dieses Konzept scheint zu funktionieren – auch in der Vergangenheit hat das Waldhaus bereits erfolgreich Zuwanderer integriert. Wir brauchen mehr solcher Pragmatiker. Denn weder mit Euphorie noch mit Angst kann Integration gelingen.

Ganz bewusst setzt Hans Artschwager, der Geschäftsführer des Waldhauses, auf Mitarbeiter, die einen ähnlichen kulturellen Hintergrund haben wie die minderjährigen Flüchtlinge – und zwar schon vor den Vorfällen in Köln. „Außer Herrn Esmat haben wir auch zwei Iraner, die demnächst als Betreuer anfangen.“ Zwar bringen diese Kräfte keine Fachausbildung mit, dafür aber „sprechen sie die Sprache der jungen Flüchtlinge“, sagt Artschwager.

Und außerdem sei der Markt für Erzieher leer gefegt. Mit dem Landesjugendamt habe man deshalb vereinbart, dass man zu 50 Prozent auch Betreuer ohne Fachausbildung einstellen dürfe, sagt Wolfgang Trede, der Chef des Böblinger Kreisjugendamts. Auch er hält den Einsatz von Mitarbeitern wie Esmat für „eine gute Lösung“. Denn die Flüchtlinge entsprächen nicht „der normalen Jugendhilfe-Klientel“: „Es handelt sich in der Regel nicht um schwierige junge Leute aus kaputten Familien, sondern um ausgesprochen höfliche junge Männer.“

Probleme gebe es aber durchaus, sagt Artschwager. „Das ist keine homogene Gruppe. Wir haben hochbegabte Jugendliche und Analphabeten, die noch nie in der Schule waren. Manche sind traumatisiert, wurden gefoltert.“ Einige Jungs würden weibliche Erzieher nicht akzeptieren, so Artschwager. „Sogar die Polizei hat kürzlich mehrfach anrücken müssen, weil ein junger Mann sich von einer Erzieherin nicht bändigen ließ und ständig andere Jungs terrorisiert.“

Rauchen auf Staatskosten ist verboten

In solchen Fällen ist Mohamed Esmat gefragt. Er macht klare Ansagen, die die jungen Männer widerspruchslos akzeptieren. Esmat hält wenig vom „Kuschelkurs“ seiner deutschen Kollegen. „Streng sein“, lautet sein Credo. Sogar das Rauchen verbietet er den Jugendlichen. „Ihr lebt hier auf Kosten des deutschen Staats. Der gibt euch Geld zum Leben, nicht zum Rauchen.“ Und er fordert Einsatz von den Jungs. Deutsch lernen, um schnell eine Ausbildung zu beginnen, sei deren Aufgabe.

In der Klasse von Esmat herrscht eiserne Disziplin. Der Ägypter hat die 14 Jungs aus Afghanistan, Syrien und Gambia bestens im Griff. Auf Kommando springen die Schüler bei unserem Besuch auf. „Guten Morgen, Stuttgarter Zeitung“, skandieren sie im Chor. Mit „Herr Lehrer“ sprechen die Jugendlichen Esmat an. Und wenn dieser einen Schüler aufruft, dann steht der selbstverständlich auf. „Für uns deutsche Pädagogen ist das gewöhnungsbedürftig. Aber es scheint, der richtige Weg zu sein“, sagt Artschwager.

Er ist zuversichtlich, dass trotz aller Unkenrufe die Integration der jungen Männer gelingt. „Viele wurden von ihrer Familie geschickt mit dem klaren Auftrag, hier schnell Fuß zu fassen, um die Familie zu versorgen. Deshalb sind sie motiviert und täglich pünktlich um 8 Uhr in der Schule.“ Zudem seien die Bedingungen in den Jugendhilfeeinrichtungen weit besser als in Unterkünften für Erwachsene. „Die meisten werden sich hier schnell integrieren.“

Mädchen in der Minderheit

Minderjährige Flüchtlinge
Momentan leben 207 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, davon acht Mädchen, in Jugendhilfeeinrichtungen des Kreises Böblingen. 209 muss er nach dem Schlüssel des Landes aufnehmen. Weitere 95 Plätze müssen jedoch in den kommenden Monaten geschaffen werden. Wenn die Landeserstaufnahmestelle (Lea) in Herrenberg eröffnet wird, rechnet der Kreis mit weiteren etwa 100 Minderjährigen – zehn Prozent der ankommenden Flüchtlinge. Für sie soll nach den Vorstellungen der Kreisverwaltung ein eigener Bereich geschaffen werden, in dem sie maximal zwei Wochen, bis zu ihrer Verteilung im Land, leben. Der überwiegende Teil der 14- bis 17-Jährigen stammt aus Afghanistan, gefolgt von Jugendlichen aus Syrien. Weit weniger Minderjährige kommen aus dem Irak, Iran, Somalia, Gambia und Eritrea.

Jugendhilfeträger
Mit 63 Jugendlichen betreut das Waldhaus Hildrizhausen die meisten Minderjährigen. Auch der Verein für Jugendhilfe, die Stiftung Jugendhilfe aktiv und das Seehaus Leonberg kümmern sich um junge Flüchtlinge. 30 sind zudem in Gastfamilien untergebracht.

Waldhaus
Das Waldhaus hat zurzeit an sechs Standorten im Kreis minderjährige Flüchtlinge untergebracht. In Holzgerlingen und Leonberg entstehen weitere Unterkünfte

Kommentar

Angst hilft nicht weiter

Dem Hype der Willkommenskultur des vergangenen Sommers folgte pünktlich zu Beginn des neuen Jahres der Kulturschock nach den sexuellen Übegriffen durch junge Araber und Nordafrikaner in der Silvesternacht. Angst vor dem „arabischen Sex-Mob“ macht sich breit. Doch weder die Euphorie des vergangenen Jahres noch die Angstdebatte, die teilweise zu rassistischen Tiraden verkommt, helfen bei der Bewältigung der gewaltigen Herausforderung, mehr als ein Million Flüchtlinge zu integrieren.

Wohltuend sind da Pragmatiker wie die Pädagogen des Waldhauses in Hildrizhausen. Euphorisch sind sie nie gewesen. Dass es nicht einfach ist, junge Männer aus dem arabischen Kulturkreis in Deutschland zu integrieren, ist ihnen längst bewusst. Deshalb haben sie bereits im vergangenen Jahr nicht nur auf den Zustrom minderjähriger Flüchtlinge reagiert und ständig neue Wohngruppen eingerichtet, sondern auch ein Konzept entwickelt, damit die jungen Leute möglichst schnell in unserer Gesellschaft Fuß fassen.

Dazu gehört ein strukturierter Tagesablauf, damit die jungen Männer erst gar nicht auf dumme Gedanken kommen. Deshalb warten die Waldhauspädagogen auch nicht darauf, dass in den überfüllten öffentlichen Integrationsklassen Plätze frei werden, sondern richten eben eigene ein. Die Probleme junger Araber und Afghanen mit Frauen gehen sie konkret an mit Kulturvermittlern, die einen ähnlichen Hintergrund haben.

Dieses Konzept scheint zu funktionieren – auch in der Vergangenheit hat das Waldhaus bereits erfolgreich Zuwanderer integriert. Wir brauchen mehr solcher Pragmatiker. Denn weder mit Euphorie noch mit Angst kann Integration gelingen.