Das Privatleben von Politikern galt in Frankreich lange als tabu. Doch nun muss ein Politiker wegen der Enthüllung eines Sex-Videos im Internet zurücktreten. Ist das ein Dammbruch zu USA-Verhältnissen?

Korrespondenten: Knut Krohn (kkr)

Paris - Die Kaste der Politiker in Frankreich erlebt ein Erdbeben. Auch das Wort von einem Dammbruch macht die Runde, andere sprechen sogar von einer Kulturrevolution. Der Rücktritt von Benjamin Griveaux wirkt wie ein Schock auf den elitären Pariser Politikbetrieb. Zum ersten Mal muss ein hoher Politiker wegen privater, intimer Enthüllungen zurücktreten.

 

Gestolpert ist der Wunschkandidat von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für die Pariser Bürgermeisterwahl über ein kurzes Sex-Video mit ihm als Hauptdarsteller. Das Filmchen, dessen Echtheit nicht ganz geklärt ist, machte in den sozialen Netzwerken die Runde. Griveaux reagiert prompt und zieht einen Monat vor der Wahl seine Bewerbung zurück. Als Urheber des schlüpfrigen Machwerks meldet sich der russische Aktionskünstler Piotr Pawlensky zu Wort, der in Frankreich im Exil lebt. Er habe Griveauxs „Scheinheiligkeit“ zur Schau stellen wollen, der immer wieder vom großen Wert der Familie spreche. Die Aufnahme habe er von einer Person erhalten, die eine „einvernehmliche Beziehung“ mit Griveaux gehabt habe.

Empörung über alle politische Lager hinweg

Über alle Parteigrenzen hinweg wird die Veröffentlichung als Tabubruch verurteilt, denn in Frankreich wurde bisher immer eisern zwischen privatem und offiziellem Leben der Politiker getrennt. So einfach ist die Sache allerdings nicht, denn die Politiker – und vor allem die Präsidenten – haben zuletzt selbst dafür gesorgt, dass diese sorgsam bewachte Mauer des Verschweigens im Laufe der Zeit langsam zu bröckeln begann.

Fast mit Sehnsucht erinnern viele Kommentatoren an die Ära von Francois Mitterand. Der Präsident führte während seiner Amtszeit über viele Jahre ein veritables Doppelleben mit zwei Familien. Jeder in Frankreich kannte dieses „Geheimnis“, doch niemand sprach offiziell darüber. Erst lange nach Mitterands Tod trat seine uneheliche Tochter an die Öffentlichkeit. Auch sein Nachfolger Jacques Chirac konnte angesichts seiner nicht wenigen Affären noch mit der wissenden Nachsicht der Öffentlichkeit rechnen. Selbst nach dessen Tod vor wenigen Monaten, wurden dessen außerehelichen Geschichten in den Nachrufen nur sehr verklausuliert umschrieben. Chirac sei eben ein großer Charmeur gewesen, heißt es da.

Die Büchse der Pandora

Mit Nicolas Sarcozy hat sich das Verhältnis Präsident/Öffentlichkeit fast dramatisch verändert. Manch ein Kommentator glaubt sogar, dass er die Büchse der Pandora geöffnet habe. Spielten die Frauen der französischen Staatschefs bis zu jenem Zeitpunkt allenfalls eine Nebenrolle, suchten Sarkozy und seine singende und schauspielende Gattin Carla Bruni immer wieder gemeinsam das Rampenlicht. Als Glamourpaar füllten sie die Spalten der Hochglanzmagazine, für die Franzosen eine völlig neue Erfahrung.

Sarkozy hatte die Trennung von Öffentlichem und Privatem aufgehoben – ausbaden musste es aber sein Nachfolger Francois Hollande. Er konnte nun nicht mehr auf die Nachsicht der Journalisten hoffen, denn die Brandmauer existierte nicht mehr. Seine außerehelichen Aktivitäten fanden ihren Weg ungebremst in die Klatschpresse. Legendär sind Fotos seiner nächtlichen Fahrt zur Geliebten durch die Straßen von Paris auf einem Motorroller – fein säuberlich dokumentiert von Reportern, die den Präsidenten in flagranti ertappten.

Ein einziges Video genügt

Im Fall von Benjamin Griveaux ist allerdings eine neue Qualität erreicht. Möglich machen dies die sozialen Netzwerke. Die Veröffentlichung des Sex-Videos auf einer einzigen Plattform genügte, um es Millionenfach zu verbreiten. Verändert haben sich auch die Akteure. Der russische Aktionskünstler Piotr Pawlensky ist offensichtlich ein Mensch, der keine Regeln und Gesetze akzeptiert und auch keine Skrupel kennt. Die Frage ist, wie die Politik mit diesen neuen Bedingungen umgeht. Der französische Essayist Maxime Tandonnet glaubt, dass die aktuelle Enthüllung nicht nur Benjamin Griveaux, sondern vor allem der gesamten französischen Demokratie schaden. In düsteren Worten prophezeit er eine Art Renaissance der Lynchjustiz.

Der Harvard-Professor Yascha Mounk sieht die Bedrohung der Demokratie Frankreichs durch die sozialen Medien allerdings nicht wegen solcher einzelner Enthüllungen in Gefahr. Das eigentliche Problem erkennt der Kommunikationsforscher in der sehr einfachen und effektiven Möglichkeit, via Internet ungezügelt Lügen zu verbreiten und Hass in der Welt zu sähen. Das sei der wirkliche Kampf, den die Politik und auch die Gesellschaft in Zukunft führe müsse. Das aber sei kein spezifisch französisches Thema, sondern eine globale Herausforderung.