Bei einem Brand in den Universal-Studios in Hollywood vor elf Jahren sind, wie erst jetzt enthüllt wurde, die Originalaufnahmen von einer halben Million Popsongs zerstört worden. Unter den Unikaten sind zahlreiche Klassiker der Musikgeschichte.

Kultur: Jan Ulrich Welke (juw)

Los Angeles - In den frühen Morgenstunden des 1. Juni 2008 brach auf dem Dach einer Filmkulissenstraße der Universal-Studios in Hollywood ein Brand aus, der sich bald zu einer verheerenden Feuersbrunst auswuchs. Die Rauchsäule war über Los Angeles viele Kilometer weit zu sehen, Hunderte Feuerwehrleute waren nötig, die Flammen zu löschen. Umso erstaunlicher, dass Universal anschließend bekannt gab, dass nur der berühmte „King Kong“ im Themenpark der Filmstudios sowie ein Lagerhaus mit veralteten Videokopien zerstört worden seien.

 

Tatsächlich griffen die Flammen seinerzeit aber auch auf ein Lagerhaus über, in dessen Gewölbekeller weit mehr als nur angestaubte VHS-Kassetten gelagert waren, wie jetzt das Magazin der „New York Times“ enthüllt hat. Denn dort wurde auch eine riesige Musikbibliothek gelagert, bestehend aus unzähligen historischen Originalaufnahmen auf Masterbändern. Sie wurden allesamt ebenfalls durch das Feuer zerstört.

Der Schaden ist nicht zu beziffern

Der Schaden ist unermesslich. In einem geheim gehaltenen Bericht schrieb Universal 2009 von rund einer halben Million verlorener Songs. Dazu zählen Aufnahmen aus der legendären Decca-Kollektion von Billie Holiday, von Louis Armstrong, Duke Ellington, Bing Crosby, Ella Fitzgerald oder Judy Garland. Vermutlich sind daneben diverse – seinerzeit für Chess Records produzierte – Aufnahmen von Chuck Berry sowie von Aretha Franklin verloren gegangen. Dazu sind nahezu alle Mastertapes (siehe Infokasten unten) von Buddy Holly sowie die meisten von John Coltrane verbrannt; auch einige weltbedeutende Hitsingles, etwa die Originalaufnahme von Bill Haleys „Rock around the Clock“. Ganze Dekaden der Popmusikgeschichte verbrannten in den Flammen, aus den Federn weltbekannter Künstler unterschiedlichster Genres – von Joan Baez, Elton John und Eric Clapton bis zu Aerosmith, Snoop Dogg und Nirvana.

Nun könnte man den Verlust zu relativieren versuchen mit dem Hinweis darauf, dass all diese Aufnahmen ja digital konserviert sind, etwa auf unzähligen CDs. Doch der jetzt bekannt gewordene historische Verlust ist in etwa so groß, als wären – um andere Kulturgattungen als Vergleich zu bemühen – auf einen Schlag die Hälfte aller Goethe- und Schiller-Manuskripte oder sämtliche Porträtstudien Rubens’ und Dürers vernichtet worden.

Auf Teilen der Mastertapes sind etwa alternative Versionen von späteren Welterfolgen aufgenommen, sind Sessions mitgeschnitten oder einzelne Tonspuren konserviert worden, die es später nie auf offizielle Tonträger geschafft haben. Das sind Fundgruben nicht nur für Musikwissenschaftler, sondern auch für Sammler – und übrigens auch für Musikmultis wie Universal, die mit Wiederauflagen, Remasters, Neueditionen, mit bisher unveröffentlichten Songs und vermeintlichen Archivausgrabungen hartnäckigen Sammlern viel Geld aus den Taschen ziehen.

Davon abgesehen sind die zerstörten Mastertapes auch von unermesslichem klanglichem Wert. „Ein Master ist das wahrhaftigste eingefangene Stück Musik“, und „jede Kopie davon ist klanglich schon einen Schritt entfernt“, zitiert die „New York Times“ Adam Block, den früheren Chef von Legacy Recordings, dem Katalogrepertoirelabel von Sony. Wohl wahr: Wer jemals den Abglanzstufen vom Originalklang über das Mastertape bis hin zu einem dünnen MP3-File gelauscht hat, weiß um den beträchtlichen Klangverlust.

Viele offene Fragen

Fragt sich also, warum Universal all dies bislang nicht öffentlich gemacht hat. Aus einer Fehleinschätzung heraus gewiss nicht. Die „New York Times“ zitiert aus einem internen Universal-Papier, das angesichts des Verlusts von einem „zweifelsohne riesigen musikalischen Vermächtnis“ spricht. Viel offenkundiger ist, dass der Musikmulti dies im Zuge seines Krisenmanagements, an dem offenbar zahlreiche PR-Strategen des Konzerns beteiligt waren, lieber verschweigen wollte.

Aus Angst vor einem über die Achtlosigkeit der offenbar überforderten Archivierungsverantwortlichen entsetzten Publikum? Aus Furcht vor Schadenersatzforderungen seitens der Künstler, ihrer Agenturen und Rechteverwerter? Oder schlicht doch nur aus Mangel an Respekt vor den Artefakten, die von der Musikindustrie nur als Regalmeter fressender nostalgischer Tand betrachtet werden?

Beim aktuellen Zustand der Musikindustrie hält man leider alle Erklärungen zugleich für sehr gut möglich.