Ob hierzulande oder im Ausland: Zwischen den Missbrauchsfällen unter katholischen Würdenträgern gibt es Parallelen. Erst wurde den Opfern nicht geglaubt. Anschließend wurden sie als Lügner dargestellt.

Ludwigsburg - An dem Tag, als Papst Franziskus die Missbrauchssynode in Rom abhielt, erfuhren die katholischen Würdenträger im Kreis Ludwigsburg erstmals von den Vorwürfen, im Hohenecker Josephsheim habe es über Jahrzehnte Gewalt und Lieblosigkeit gegeben. Über die Machtstrukturen im Vatikan, die weltweiten Missbrauchsfälle und die Zusammenhänge mit dem Fall Hoheneck wurde im Ludwigsburger Caligari-Kino diskutiert – dabei hatten der Vizechef der Ludwigsburger Redaktion dieser Zeitung, Rafael Binkowski, und der Marbacher Pfarrer Stefan Spitznagel ähnliche Ansätze.

 

Zunächst wurde in der Reihe Kinokult der Film „Verteidiger des Glaubens“ gezeigt, eine Dokumentation über Papst Benedikt XVI, der zuvor Joseph Ratzinger hieß. Die These des Werks von Christoph Röhl war klar: Der deutsche Papst sei letztlich am Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche gescheitert. Der einst umjubelte Joseph Ratzinger sah sich in der ausweglosen Lage, für eine Aufklärung zu sorgen, die er vielleicht sogar wollte, ohne aber von seiner Glaubensvorstellung einer starken Kirche abzuweichen.

Ratzinger sieht das System Kirche nicht in der Verantwortung

Mit vielen historischen Dokumenten weist der Regisseur nach, wie Ratzinger bis zum Schluss kompromisslos eine Kirchenlehre nach seiner Vorstellung vertreten hat. Nach seiner Auffassung machen einzelne Priester vielleicht Fehler. Diese haben jedoch mit dem System Kirche nichts zu tun. Als sein Denkansatz nicht mehr zu funktionieren schien, trat das in Bayern geborene Kirchenoberhaupt im Februar 2013 von seinem Amt zurück und überließ es seinem Nachfolger Papst Franziskus, eine der schwersten Krisen im Vatikan aufzuarbeiten.

Aus unserem Plus-Angebot: Im Josefsheim war Gewalt an der Tagesordnung

Diesen Schluss legt der Film „Verteidiger des Glaubens“ zumindest nahe. Benedikt als tragischer Held, der sich unfähig zeigte, neue Wege einzuschlagen und dadurch sein Lebenswerk verlor.

Die Katholische Erwachsenenbildung im Landkreis Ludwigsburg zeigte die 90-minütige Dokumentation am Donnerstag im Kino Caligari. Anschließend wurde unter der Moderation von Christian Turrey mit dem Kinopublikum diskutiert, was von den Behauptungen des Filmemachers Christoph Röhl zu halten ist.

Opfer wurden als Lügner dargestellt

Die ersten Fälle körperlichen, sexuellen oder seelischen Missbrauchs in katholischen Einrichtungen wurden im Jahr 2002 in Boston (USA) bekannt. Der Skandal war 2010 auf seinem Höhepunkt, als sich in Irland immer mehr Missbrauchsopfer meldeten, denen Kirchenvertreter aber lange Zeit keinerlei Gehör schenkten. Der Journalist Binkowski erinnerte daran, dass die Kirche auch in Ludwigsburg einen solchen Skandal aufzuarbeiten hat. Er berichtete über Menschen, die in den 1960er und 70er Jahre ihre Kindheit im inzwischen geschlossenen Josefsheim in Hoheneck verbracht haben und Gewalterfahrung vielfältiger Art machen mussten. „Was wir im Film gesehen haben, spielte sich in Hoheneck im Kleinen ab“, stellte der stellvertretende Redaktionsleiter fest: Erst sei den Opfern nicht geglaubt worden. Anschließend wurden sie als Lügner dargestellt.

Zumindest von Seiten des katholischen Ordens habe man zunächst versucht, sich zu entschuldigen und auf fehlende Unterlagen zu verweisen. Erst auf öffentlichen Druck und des Dekanats hin habe man mit dem Münchner IPP-Institut einen externen Aufklärer bestellt.

Karmelitinnen aus Ludwigsburg sind bereit, die Opfer zu entschädigen

Ganz ähnlich sei der Vatikan 2010 verfahren, als massenhaft Missbrauch durch Priester in Irland oder den USA bekannt geworden sei. Ein Eingeständnis der Schuld hätte in ihren Augen das System der Kirche in Frage gestellt. „Wie tief verwurzelt die Machtstrukturen sind, das hat mich schockiert. Das war mir so nicht bewusst“, zog Binkowski seine persönliche Bilanz aus dem Film. Der katholische Schwesternorden der Karmelitinnen, der das Kinderheim in Ludwigsburg führte, zeige immerhin Bereitschaft, für eine volle Aufklärung zu sorgen und die Opfer zu entschädigen.

Bei einer ähnlichen Veranstaltung im Caligari-Kino vor einigen Wochen waren rund 30 ehemalige Heimkinder aus Hoheneck gekommen und hatten engagiert mit diskutiert. Es ist noch viel zu reden.

Mehr Verhinderer als willige Reformer

Der Marbacher Gemeindepfarrer Stefan Spitznagel ist dafür bekannt, dass er kein Blatt vor den Mund nimmt. Er sagte: „An manchen Stellen im Film ist es mir schlichtweg schlecht gewesen.“ Was die Dokumentation gezeigt habe, sei „wirklich unfassbar“. Nach Spitznagels Überzeugung ist die Katholische Kirche nicht reformierbar. „Wir müssen aus dem System aussteigen“, verlangte er. In den Führern seiner Kirche sieht er mehr Verhinderer als willige Reformer. Stefan Spitznagel macht es an dem fehlenden Willen fest, Frauen in Kirchenämtern den Männern gleichzustellen. „Seit 50 Jahren ändert sich doch nichts.“

Kinobesucher bescheinigten dem Film, trotz zum Teil heftiger Kritik keine Häme über den Papst und Vatikan zu verbreiten. In ihren Wortmeldungen machten sie ihren Zwiespalt deutlich: Einerseits seien die Vorgänge im Vatikan für sie als gläubige Christen kaum auszuhalten.

Andererseits fühlten sie sich sehr wohl in ihrer Kirchengemeinde. „Das hat mit meiner Kirche nicht mehr viel zu tun, an die ich glaube“, stellte ein Mitglied eines Kirchengemeinderats fest. „Ich will kein Teil einer Stasi sein. Ich will mich aber wohltätig und gut in meiner Gemeinde einbringen.“