Das Wohngebiet Gehenbühl hat rund 3000 Bewohner – in Richtung Gerlinger Innenstadt aber ist es weit. Der Stuttgarter Stadtteil Giebel liegt viel näher und geschickter – beispielsweise mit seinem Einkaufszentrum am Ernst-Reutter-Platz.

Gerlingen - Wenn Elke Kaltenbach-Dorfi die vielen Stufen bewältigt hat und hinaus auf den Balkon getreten ist, hat sie eine wunderbare Aussicht. Der Blick vom Turm der Lukaskirche ist für die Pfarrerin mit einem Kuriosum verbunden: Über die Häuser „ihres“ Gerlinger Wohngebiets Gehenbühl hinüber in die Nachbarstadt Stuttgart und dessen Bezirk Giebel ist es nach Osten nur einen Steinwurf. Die am entferntesten Teile ihres Gemeindebezirks liegen einen Kilometer südlich der Kirche. Den Turm der Petruskirche in der Innenstadt sieht die 52-Jährige nur am Horizont. Gehenbühl ist ein Wohngebiet von Gerlingen – aber auch ein Gemeinwesen fast für sich. Die Gehenbühler differenzieren noch einmal – in den „unteren“ und den „oberen“ Gehenbühl. Das erinnert an das zweigeteilte Dorf Unter- und Oberrieslingen aus dem Kino. Mit dem Unterschied, dass in Gerlingen alle miteinander auskommen.

 

„Früher war die Lukas-Gemeinde das Sozialzentrum des Stadtteils“, meint die Pfarrerin, die seit drei Jahren in Gehenbühl ist. Früher, das war zu Zeiten ihres Vorgängers Jens Keil, der die Sozialarbeit immer hochgehalten hat. Das war aber auch noch früher – denn die Lukas-Gemeinde gibt es seit 1967 und die Lukas-Menschen waren schon immer engagierte Leute. Das möchte Kaltenbach-Dorfi nicht missen – obwohl mit dem Familienzentrum der Stadt samt Kita ein neues Haus mit neuen Angeboten vor einem Jahr eröffnet hat.

Angebote sind keine Konkurrenz

„Jetzt gibt es gegenüber ein zweites Zentrum“, stellt die Pfarrerin fest, „aber wir spüren’s nicht, und wir wollen auch keine Konkurrenz sein, sondern uns ergänzen.“ Und sie nennt als Beispiel den traditionellen Kinderkleiderbasar: der hat früher im Lukas-Gemeindesaal und im städtischen Kindergarten nebenan stattgefunden. Jetzt ist er im Familienzentrum und im Lukas-Gemeindesaal. „Die Absprachen der Angebote funktionieren sehr gut“, meint die Pfarrerin. Im Kirchengemeinderat seien alle gespannt gewesen, „wie das werden wird“. Nach einem Jahr gibt es „kein Grummeln, alles ist erstaunlich entspannt.“ Die Angebote im Familienzentrum seien überkonfessionell – „wie in Lukas schon immer“.

Die Menschen im Gehenbühl, so hat Kaltenbach-Dorfi seit 2012 beobachtet, sie seien sowohl in Richtung Giebel/Feuerbach/ Stuttgart orientiert, als auch in die Gerlinger Stadtmitte. In beide Richtungen fährt die U 6 – in die Stadtmitte wie in den Giebel. Im dortigen kleinen Einkaufszentrum am Ernst-Reutter-Platz ist man rasch und man findet alles, was man täglich braucht. Auch der Einkaufsmarkt am äußersten Rand von Hausen, dem übernächsten Weilimdorfer Stadtteil von Gehenbühl aus gesehen, ist rasch erreicht. Was will man mehr?

Auch Dagmar (71) und Manfred Zühlsdorff (72) sind ganz zufrieden. Sie fühlen sich verantwortlich für den „Treffpunkt Gehenbühl“. Diese Gruppe von Menschen hat sich vor fünf Jahren gebildet, als die Stadtverwaltung den Prozess „Miteinander älter werden“ startete und sich Arbeitsgruppen für und in allen fünf Stadtteilen bildeten. Im Gehenbühl sind 20, 25 Aktive übrig geblieben – und die betreiben nicht nur das Café im Familienzentrum an zwei Nachmittagen in der Woche, sondern bieten dort Gruppen an: Spielen, Basteln, Nordic Walking, Gehirntraining. Und sie sind glücklich, dass sich in der Nachbarschaft ein Gemeinsinn entwickelt, der bis zu einem kleinen Fest reicht. Heuer habe man zum zweiten Mal beim „Eibenwegfest“ auf der Fahrbahn gesessen, „und Nachbarn aus anderen Straßen sind auch gekommen“.

Am See ist es wie in „Bad Gerlingen“

Neben der Lukasgemeinde gibt es die katholische Kirche St. Andreas – deren Gastfreundschaft schätzt das Ehepaar Zühlsdorff ebenso. Die Angebote der Gemeinde seien keine Konkurrenz zu denen des Treffpunkts Gehenbühl. Der neue Breitwiesensee, gleich neben Sankt Andreas, der sei schön und ein nahes Ziel. „Fast Bad Gerlingen“, scherzt Dagmar Zühlsdorff.

Ganz so fröhlich ist Peter Dietrich nicht, wenn er sechs Jahrzehnte zurückdenkt. Er kam gleich nach dem Krieg als junger Mann allein aus dem donauschwäbischen Batschka-Gebiet nach Stuttgart, holte den Vater nach, und zehn Jahre später bekam man eines der ersten Grundstücke im neuen Gerlinger Stadtteil Gehenbühl. „Am Anfang haben wir hier im Matsch gestanden, jeder hat viel allein an seinem Haus geschafft.“ Die heutige Garage hätten sie als erstes gebaut und eine Zeitlang darin gewohnt, bis das Haus fertig war. Dann hätte ein Laden daraus werden sollen, aber das habe ihm der Bürgermeister Wilhelm Eberhard ausgeredet. Auto gab es noch keines für das kleine Haus, aber einen lebendigen Bewohner: ein Schwein. „Aber nur einmal“, sagt Dietrich lachend. Was dann mit der Sau geschah, kann man sich denken.

Mit der Straßenbahn sei man zur Arbeit gefahren, er ins Tuchhaus Scheid nach Stuttgart, seine Frau zum Bosch nach Feuerbach. Auch die anderen Wege führten „nicht nach Westen, sondern nach Osten“ – also nach Giebel und nicht nach Gerlingen. Und sei es nur in den großen Garten der Familie in Weilimdorf. Heute gebe es in der Stadtmitte für sie eigentlich nur zwei Ziele, sagt Dietrich: den Friedhof und samstags den Markt. Das neue Träuble-Areal, das für alle Gerlinger ein Anziehungspunkt werden soll, „brauche ich nicht zum Einkaufen“, meint der 86-Jährige. „Aber ich freue mich, dass es gemacht wird.“ Den Generationenwandel spüren sie auch im Gehenbühl. Dietrich: „90 Prozent von früher sind weg.“ Nicht nur ins Altersheim gezogen.