In der Kathedrale von Santiago de Compostela soll ein Mann Spenden in Millionenhöhe gestohlen haben. Jetzt droht ihm eine lange Haftstrafe.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Santiago de Compostela - Manuel Fernández Castiñeiras hat penibel Tagebuch geführt. Darin notierte er die Glühbirnen, die er in der Kathedrale von Santiago de Compostela auswechselte, die Rosenkränze, die er betete, den Kaffee, den er trank, und das Geld, das er stahl. „Ich ging in die Kathedrale, nahm 20 735 Euro, dann zählte ich, dann zum Gebet“, schrieb er in sein Notizbuch. So ging das jahrelang, zumindest wird ihm das vorgeworfen. Am Montag ist der Prozess gegen den 63-jährigen Elektriker in der galicischen Hauptstadt Santiago eröffnet worden. Das Gericht im Nordwesten Spaniens wird in den kommenden drei Wochen herausfinden müssen, was dran ist an der kuriosen Geschichte.

 

Vielleicht hätte sich Castiñeiras die Anklagebank erspart, wenn er mit dem Geld zufrieden gewesen wäre, das er aus den Spendendosen und den Kollektenbeuteln der Kathedrale entwendet haben soll. Doch am 4. Juli 2011 griff er sich ein Buch aus dem Archiv der Kathedrale: den Codex Calixtinus, auch Jakobsbuch genannt, eine Sammlung mittelalterlicher Handschriften aus dem 12. Jahrhundert von unschätzbarem Wert. Er steckte es sich unter seine Jacke und nahm es mit nach Hause.

Die Polizei ermittelte rund ein Jahr lang

Das Geld, das sich Castiñeiras genommen hatte, vermisste niemand. Doch der Verlust des Codex war ein nationaler Skandal. Wie konnte es sein, dass ein solcher Schatz ungesichert im Archiv lag? Welcher Sammler historischer Schriften hatte den Diebstahl in Auftrag gegeben? Würde man das Jakobsbuch jemals wiederfinden?

Rund ein Jahr lang ermittelte die Polizei. Weil es nirgendwo Einbruchsspuren gab, konzentrierte sich der Verdacht auf die Mitarbeiter der Kathedrale. Einer von ihnen war Castiñeiras, der sich seit Jahrzehnten um die elektrischen Anlagen der Kirche kümmerte. Ein unauffälliger, wortkarger, gläubiger Mann. Eine Sicherheitskamera filmte ihn, wie er an jenem 4. Juli mit auffällig aufgeblähter Jacke die Kathedrale verließ. Nicht Grund genug, ihn festzunehmen. Der Ermittlungsrichter ließ Mikrofone in der Wohnung des Elektrikers installieren. Castiñeiras verriet sich. Im Juli 2012 wurde er festgenommen. Er gestand den Raub des Codex Calixtinus. Der lag unversehrt in einer Garage, eingewickelt in Zeitungen und Tüten.

Eine Sicherheitskamera filmte seine Missetaten

Doch was hatte den Elektriker zu seiner Tat getrieben? Er hatte keine Hintermänner, kein Sammler hatte ihn zum Diebstahl angestachelt. Die reine Wut soll es gewesen sein, die Castiñeiras antrieb. Wut auf die Kirchenleitung, die ihm keine Festanstellung gab. Nicht genug damit: in einer schriftlichen Erklärung behauptet der Elektriker, Dinge in der Kathedrale beobachtet zu haben, die er für unschön hielt, homosexuelle Affären und, ja: Diebstähle. Gerne hätten Kirchenmitarbeiter sich aus der Spendendosen bedient.

Die Auslassungen des Diebes sollen bei der Kirchenleitung Aufregung ausgelöst haben. Offenbar war es recht leicht, an das Geld heranzukommen, das Jakobspilger und Gottesdienstbesucher hinterließen. Vermutlich brachte Castiñeiras die Barspenden in ein Büro der Kirche, nahm sich einen Teil davon und ließ den Rest zurück, ohne dass ihn jemand dabei kontrollierte. Für alle Fälle war in dem Büro eine Sicherheitskamera installiert, von der aber alle Welt glaubte, dass sie nicht mehr funktioniere. Was sich als ein Irrtum herausstellte. Nun gibt es Bilder von Castiñeiras, auf denen zu sehen ist, wie er sich an den Spendengeldern bediente.

Am ersten Verhandlungstag kam die Anwältin Castiñeiras’ zu Wort, die alle Ermittlungen für nichtig erklärt haben wollte. Die Staatsanwaltschaft teilt ihre Ansichten nicht. Sie will Castiñeiras für 15 Jahre hinter Gitter stecken, wegen des Diebstahls des Codex Calixtinus und der Aneignung von mehr als 2 Millionen Euro Spendengeldern. Mit ihm sind Ehefrau und Sohn wegen Beihilfe zur Geldwäsche angeklagt.