Die Sportpsychologin Jeannine Ohlert beklagt, dass Übungsleiter ihre Position gegenüber jungen Sportlern noch häufig ausnutzen – was zu umfassenden negativen Folgen führen kann.

Stuttgart - Seine Karriere war bereits beendet, als der junge Eiskunstläufer aus den USA realisierte, dass er jahrelang ein Opfer war. Mit 14 hatte er eine vermeintliche Liebesbeziehung mit seinem Trainer begonnen und geglaubt, sie sei einvernehmlich. Erst viel später begriff er, dass er missbraucht wurde. Es ist „ein klassischer Fall“, von dem Jeannine Ohlert berichtet, „denn Jugendliche, die von klein auf im Leistungssportsystem aufwachsen, können dieses Abhängigkeitsverhältnis oft nicht verstehen“.

 

Das komplexe und häufig problematische Beziehungsgeflecht zwischen Trainern und ihren Athleten ist einer der Forschungsschwerpunkte der Sportpsychologin der Deutschen Sporthochschule Köln, sie gehört auf diesem Feld zu den führenden Wissenschaftlerinnen im Land. Zwei aktuelle Fälle – der mutmaßliche Missbrauchsskandal im baden-württembergischen Frauenboxen und die schweren Vorwürfe der psychischen Gewalt, die von der ehemaligen Turn-Weltmeisterin Pauline Schäfer gegenüber ihrer langjährigen Trainerin in Chemnitz erhoben wurden – haben Ohlerts Forschungsgebiet wieder in den Fokus der Öffentlichkeit gerückt.

„Die Zeit ist endlich reif, dass Athletinnen und Athleten darüber sprechen, was sie erleben und ertragen müssen“, sagt Jeannine Ohlert. Gleichzeitig sieht sie in diesen Fällen eine weitere Bestätigung dafür, wie viel im deutschen Leistungssport noch immer im Argen liegt. Institutionell mag sich in den vergangenen Jahren einiges verbessert haben. Verbände und Vereine sind dazu verpflichtet, Kinderschutzbeauftragte zu benennen und viele andere Vorgaben zu erfüllen, wenn sie Fördergelder erhalten wollen. Der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) hat bei seiner jüngsten Mitgliederversammlung weitere umfassende Standards zur Prävention und zum Schutz vor sexualisierter Gewalt verabschiedet. Allerdings: „In den Köpfen der Trainerinnen und Trainer muss sich noch ganz viel verändern“, sagt Jeannine Ohlert.

Respektvoller Umgang auf Augenhöhe

Es steht außer Frage, dass Trainer im Leistungssport gerade für die Entwicklung junger Athleten von fundamentaler Bedeutung sind. In besonders trainingsintensiven Sportarten wie Turnen oder Schwimmen verbringen Sportler häufig mehr Zeit mit ihren Trainern als mit den eigenen Eltern. Sie sind nicht nur dafür zuständig, dass ihre Schützlinge erfolgreich sind – im besten Falle haben sie auch eine Vorbildfunktion und vermitteln Werte, die weit über den Sport hinausgehen.

Doch nur in der Theorie herrscht Einigkeit darüber, wie ein funktionierendes Trainer-Athleten-Verhältnis aussehen sollte. Zahlreiche Studien belegen, dass ein respektvoller Umgang auf Augenhöhe, ein Mitspracherecht und die Möglichkeit, klare Grenzen zu setzen, viele positive Auswirkungen auf die Entwicklung der Athleten haben. Es erhöhe langfristig die Motivation und verringere die Zahl der Aussteiger, meint Jeannine Ohlert, „wenn mein Trainer mich auch als Mensch ernst nimmt und nicht nur als Maschine betrachtet, die Leistung bringen muss“.

In der Praxis allerdings sei es in manchen Sportarten noch immer so, dass sich viele Übungsleiter an den Methoden der „Erfolgstrainer aus dem früheren Ostblock“ orientieren: Sie beruhen auf starken Hierarchien, maximalem Druck und dem ständigen Ausüben von Macht. Ein „Relikt aus alter Zeit“, wie die Wissenschaftlerin findet, und „kein Klima, in dem sich Jugendliche gut entwickeln können“.

Trainerrolle vom Privatleben trennen

Die negative Folge: „Das kann im wahrsten Sinne des Wortes tiefe Narben hinterlassen“, sagt Ohlert. Nämlich dann, wenn das Selbstbewusstsein der Athleten am Boden ist und sie sich selbst verletzen, „weil sie von ihrem Trainer ständig das Gefühl bekommen, ein Versager zu sein. Das kann schwere psychische Schäden hervorrufen und bis hin zu Panikattacken führen.“

Als großes Missverständnis betrachtet es die Psychologin, wenn Trainer glaubten, für die gesamte Persönlichkeitsentwicklung ihrer Schützlinge zuständig zu sein, und daher Rollen übernähmen, in denen sie nichts zu suchen hätten. „Man muss die Trainerrolle streng von privaten Aktivitäten trennen“, sagt Jeannine Ohlert, „ein Trainer darf sich außerhalb des Sports nicht einmischen.“ Was bedeutet: keine gemeinsamen Unternehmungen außerhalb der Turnhalle, des Schwimmbads oder der Laufbahn – und vor allem: keine Liebesbeziehungen, auch nicht mit jungen Erwachsenen.

Der Machtunterschied und das Abhängigkeitsverhältnis ließen so etwas nicht zu. „Das ist psychologisch nicht haltbar“, sagt Jeannine Ohlert. Und wenn tatsächlich auf beiden Seiten echte Gefühle im Spiel sind? In der Verantwortung des Trainers liege es in einem solchen Fall, die sportliche Beziehung zugunsten der privaten aufzugeben. „Anders kann es nicht funktionieren.“